Kein Vertrauen in progressiven Handlungswillen

Derzeit lese ich unter anderem „Die Gute Gesellschaft„, einen Sammelband des Suhrkamp-Verlages, der versucht, die derzeitige sozialdemokratische Programmdebatte abzubilden. Zu dem Band kann ich noch nicht viel sagen, bei dem derzeitigen Vorlauf an Rezensionen, wird ein Artikel wohl auch erst im Januar folgen. Bereits die Einleitung der beiden Herausgeber Christian Kellermann und Henning Meyer ließ mich aufhorchen: „Immer häufiger hören wir das Wort ‚Spaltung‘. Spürbar wird diese Spaltung im Alltag, in der Schule, im Berufsleben, zwischen den Generationen und zwischen den Geschlechtern – zwischen reich und arm sowieso“ (13). Dies ist Teil ihrer Ausgangsdiagnose, warum man sich über die „Gute Gesellschaft“ Gedanken machen sollte.

Empirisch ist diese Spaltung gut belegt. Die Vermögen im Land sind so ungleich verteilt wie seit Jahrzehnten nicht mehr, der Zugang zu gesellschaftlicher Teilhaber wird immer mehr Menschen versperrt. Und dennoch, so scheint es zumindest in den aktuellen Diskussionen und vor allem im Mediensystem, ist die Spaltung der Gesellschaft bei weitem nicht das Hauptthema. Die vermeintlich wichtigen Fragen sind immer Personal- oder Institutionenfragen, wer wird Minister, ist ein Parteimitgliedervotum verfassungskonform. Die zunehmende Spaltung kommt kaum vor.

Dafür mag es eine schlichte und einfache Erklärung geben: Die Ausgeschlossenen befinden sich fern ab der politisch umkämpften Mitte. Keine Partei kann Wahlen mit ihnen gewinnen, also wird ihre skandalöse Lage im Wahlkampf nicht thematisiert, sie haben keine politische Lobby. Dagegen sprechen weitere Teile der politischen Wahlprogramme, auch das der sozialdemokratischen Partei. Doch die dort festgehaltenen Pläne zum Beispiel für den Arbeitsmarktbereich werden gesellschaftlich kaum diskutiert.

Am Freitag war zum Beispiel Sigmar Gabriel in Bremen, um den Koalitionsvertrag mit den Unionsparteien zu verteidigen. Sein Hauptargument, immer wieder wiederholt, waren die kleinen Erfolge, die darin zu finden sind und die die SPD-Mitglieder bei nicht Zustimmung den „kleinen Leuten“ verwehren. Angesprochen wurde er von Jusos auf die geplante Abschaffung der sachgrundlosen Befristung, die vor allem junge Menschen in prekäre, weil zeitlich begrenzte Arbeitsverträge zwingt. Es entwickelte sich eine kleine Debatte darüber. Würde man jedoch außerhalb der Sozialdemokratie nach dem „Problem“ der immerhin seit den 80ern bestehenden sachgrundlosen Befristung fragen – den meisten wäre das Thema wahrscheinlich unbekannt oder herzlich egal.

Im zweiten Beitrag des Buches hat Andrea Nahles durchaus recht, wenn sie schreibt, „hierfür [Gute Gesellschaft] gesellschaftliche Mehrheiten zu finden, wird schwieriger, als es auf den ersten Blick erscheint. Der Glaube an die Rationalität und Effektivität entfesselter Marktkräfte wurde zwar fundamental erschüttert, aber auch das Vertrauen in die politische Handlungsfähigkeit des Staates ist beschädigt“ (28). Tatsächlich trifft diese Aussage, die Wahrheit beinahe.

In den meisten linken oder progressiven Programmschriften der letzten Jahre finden sich mal mehr mal weniger konkret Bekenntnisse dazu, gesellschaftliche Mehrheiten für die eigenen Ideen zu finden. Gelungen ist das, blickt man auf die Wahlergebnisse der progressiven Parteien in Deutschland, nicht. Im Gegenteil, seit 2005 haben die drei Linken Parteien rot-grün-rot absolut Wähler verloren. Dabei sprechen ihre Programme gesellschaftliche Missstände durchaus an, nur es fehlt der Glaube und das Wissen. Weder wird über die Pläne diskutiert, noch gelingt es, sie im Wahlkampf zu transportieren. Und zuletzt misstraut die Mehrheit der Wähler der Sozialdemokratie noch immer, das umzusetzen, was sie verspricht.

Es ist also schön, regelmäßig und immer wieder davon zu sprechen, dass man eine wie auch immer geartete „gesellschaftliche Mehrheit“ mit dem eigenen Programm ansprechen möchte. Konkreter müsste man aber fragen, warum die gesellschaftliche Mehrheit vom eigenen Programm nicht mehr angesprochen wird. Da ist nicht nur – wie die SPD-Generalsekretärin schreibt – das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik, sondern vor allem das Vertrauen in den Handlungswillen der Sozialdemokratie gebrochen. Dieses Vertrauen – soll die große Koalition ein Ausgangspunkt für eine progressive Mehrheit 2017 werden – muss in den nächsten vier Jahren wieder hergestellt werden.

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