Oms en série (von Stefan Wul)
|Nachdem die menschliche Zivilisation in ein perfektes Gleichgewicht erreicht hat, ist sie über die Jahrhunderte durch immer neue Regeln und durch das Fehlen von Innovation erstarrt und degeneriert. Daher wirkten die Menschen auf die Draag wie Tiere als diese erstmals die Erde erreichten. Die groß gewachsenen Draags nutzen seit dem die Menschen als Haustiere und nennen sie „Oms“ (Menschen bedeutet auf Französisch „Hommes“). Die Handlung beginnt damit, dass das Draag-Kind Tiwa einen Oms erhält und diesen Terr (kurz für „terrible“ (schrecklich)) nennt. Terr ist immer bei Tiwa, wenn diese mithilfe einer elektronischen Maschine lernt. Dabei erlernt Terr nicht nur viele Kenntnisse, die ein normaler Om nich hat, sondern auch Sprechen und Lesen. Da er es nicht mehr aushält, seine Intelligenz zu verstecken, reißt er von seinen Besitzern aus. Auf seiner Flucht trifft er auf eine Gruppe wilder Oms. In Verbindung mit seinen Fähigkeiten gelingt es den Om bald eine Parallelgesellschaft aufzubaune und Stück für Stück ihre Zivilisation zu rekonstruieren.
Als Tiere gehaltene Menschen sind ein faszinierender Einstieg für einen Roman. Die Draag bauen ihren Haustieren Omérien, die an Katzenkörbe erinnern. Wul nimmt sich für diesen Start besonders viel Zeit und Platz. Der Roman ist in drei Abschnitte unterteilt. Terrs erste Jahre bei seinen Besitzern sowie die ersten Tage nach der Flucht füllen den ersten Abschnitt. Obwohl das Tempo hier nicht besonders hoch ist, weiß die Handlung zu fesseln. Man erfährt bereits, dass die Draag gar nicht mehr auf dem eigentlichen Kontinent des Planeten wohnen. Stattdessen haben sie vier künstliche Kontinente erschaffen, auf denen sie in Frieden und Wohlstand wohnen. Das Szenario ist zunächst nicht besonders bedrohlich. Die Menschheit ist schließlich bereits vor den Draag in die Barberei zurückgefallen. Woran hätten die Draag denn die Intelligenz der Menschen erkennen sollen? Stattdessen behandeln sie Menschen eben wie Katzen: Sie werden eine Weile bei der Mutter gelassen, dann aber weiterverkauft.
Das ganze Ausmaß des Schrecken erkennt der Leser erst als in dem Park, in dem sich Terrs Gruppe wilder Om versteckt eine „Désormination“ durchgeführt wird. Alle zwei Draag-Jahre (ein Draag-Tag entspricht 45 menschlichen Tagen) geschieht dies in allen öffentlichen Anlagen. Wie in unserer Realität wilde Katzen und Hunde gelegentlich gejagt werden, sind nun Menschen die gejagten. Normalerweise überraschen diese Aktionen die Oms, nur weil Terr es vermag, die Warnschilder zu lesen, kann seine Gruppe entfliehen.
Im zweiten Teil fügt Wul der Geschichte eine administrative Ebene hinzu. Sie ist insofern gelungen, als dadurch deutlich wird, wie langsam die Draag arbeiten. Es wurde bereits erwähnt, dass einer ihrer Tage 45 Erdtagen entspricht. Die Menschen agieren daher viel schneller, leben aber auch deutlich kürzer. In dem zweiten Abschnitt hat Terr fast alle wilden Oms um sich in einer großen unterirdischen Stadt vereint. Gemeinsam legt man Vorräte an, bildet sich weiter und plant den großen Exodus. Da es einen unbewohnten Kontinent auf dem Planeten gibt, möchten sich die Om dort niederlaßen. Davon wissen die Herrscher des Planeten zunächst gar nichts. Sie benötigen den gesamten zweiten Teil, um die Aktivitäten der Oms überhaupt nachvollziehen zu können.
Die Draag fühlen sich natürlich dadurch bedroht, dass auf ihrem Planeten eine zweite Zivilisation entsteht. Das verwundert nicht, es würde die Menschheit sicherlich auch verunsichern. Aber selbst im dritten Teil verweigern sich viele Draag-Führer, die Realität zu erkennen. Daher greift der oberste Herrscher zu einem für die Draag-Führung äußerst ungewöhnlichen Mittel: In der sonst so die Stabilität preisenden Presse veröffentlicht er die Informationen über die Intelligenz der Oms. Es beginnt in großen Teilen der Draag-Bevölkerung eine Vernichtungsaktion gegen die noch auf den künstlichen Kontinenten verbleibenden Oms. Der Herrscher flankiert diese Aktion mit einem Angriff auf die neu gegründete Stadt der Oms auf dem „wilden“ Kontinent.
Die Ereignisse überschlagen sich und nur mit viel Kreativität gelingt es den deutlich unterlegenen Oms sich zu wehren. Durch die Ereignisdichte wird die Handlung nicht langweilig, sondern fesselt den Leser von Anfang bis Ende. Die Entscheidungsprozesse der Draag sind dabei genau so faszinierend wie die Aufbauarbeiten der Oms. Erschreckend ist, wie menschlich die Draag in ihrem Verhalten wirken. Obwohl sie nur sehr langsam reagieren, wenden sie gegen die Oms die ganze Härte der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel an.
Es ist daher etwas unglaubwürdig, dass es den Oms tatsächlich mit wenigen Waffen gelingt, die Draag so stark zu verunsichern, dass sie einer friedlichen Koexistenz zustimmen. Das entspricht aber Wuls Grundtheorie. Er meint, dass Zivilisationen, die kein Alternativmodell haben, auf Dauer stagnieren und degenerieren. Das geschah mit der Menschheit und wiederholt sich nun mit den Draag. Denn die Draag sind keinen Krieg mehr gewohnt, daher reichen bereits einige Verluste, um sie zur Kapitulation zu bringen. Obwohl der Roman viele optimistische Elemente, wie die Einheit der Menschheit und die friedliche Lösung am Schluss, enthält, ist diese Theorie grundlegend pessimistisch. Schließlich würde das bedeuten, dass eine nachhaltige Zivilisation immer ein Gegenstück für den Wettbewerb braucht.
Für das Erscheinungsjahr 1957 ist diese Idee aber nicht zwingend pessimistisch. Mitten im Kalten Krieg plädiert Wul damit nämlich dafür, dass der Konflikt zwischen Ost und West nicht grundlegend schlecht sein muss. Wenn man sich auf Regeln einigt, die einen Krieg verhindern, kann der Wettbewerb zwischen zwei Zivilisationsmodellen aus beiden das Beste herausholen. In den Deregulierungs- und Sozialstaatabbauorgien nach dem Ende des Kalten Krieges dürften viele Menschen in der „westlichen“ Welt erfahren haben, dass die ständige Konkurrenz mit den „realsozialistischen“ Ländern durchaus ihre Vorteile hatte. Indem der Legitimationszwang westlicher Demokratien weggefallen ist, haben es Ideologien wie der Neoliberalismus viel einfacher sich durchzusetzen. Man könnte angesichts der Schwäche westlicher Demokratien ihr über lange Zeit größtes Argument der relativen sozialen Gleichheit im regulierten Kapitalismus aufrechtzuerhalten durchaus eine nachträgliche Bestätigung von Wuls Zivilisationsthese sehen.
„Oms en série“ ist aber auch abseits von diesen Überlegungen ein unterhaltsamer, spannender und an vielen Stellen angenehm nachdenklicher Roman, dem aus wenigen Seiten gelingt eine komplexe Geschichte in einfachen Handlungen zu erzählen. Das ist alles in allem sehr überzeugend.