Das Orakel vom Berge (von Philip K. Dick)
|Der 1962 verfasste Roman spielt im selben Jahr in einer Alternativwelt. Die Achsenmächte haben den zweiten Weltkrieg gewonnen. Die Welt, insbesondere die USA, ist zwischen Japan und Deutschland aufgeteilt. Während das japanische Kaiserreich sich zu einem autokratischen, aber verhältnismäßig rechtsstaatlichen Regime gewandelt hat, treiben die Nazis weltweit ihr Unwesen. Nachdem sie den Völkermord an den Juden beendet haben, wandten sie sich Afrika zu, um nun zu den Sternen zu streben. Dabei nehmen die Spannungen zwischen den Nationalsozialisten und dem japanischen Kaiserreich immer weiter zu. Von alldem zunächst unbehelligt arbeiten Frank Frink und Robert Childan im japanisch besetzten Kalifornien. Weiße sind nur Bürger der zweiten Klasse, werden jedoch für ihre untergegangene Kultur geschätzt. Am meisten Geld verdient man daher mit dem Antiquitätenhandel, wobei die meisten „Antiquitäten“ gefälscht sind. Zu Beginn der Handlung trifft der deutsche Agent Rudolf Wegener ein, der einen Angriff auf Japan verhindern möchte. Frinks Ex-Frau Julia trifft derweil im selbstverwalteten amerikanischen Süden auf einen Nazi-Agenten mit weniger guten Absichten.
Es geschieht wenig in Dicks Alternativweltroman. Die wichtigsten Ereignisse sind die Warnung vor dem drohenden Angriff der Nazis auf Japan und die Verhinderung eines Attentats durch Julia Frink. Trotz dieser Ereignisarmut liest sich der Roman fließend und spannend. Denn Dick zeigt einmal mehr, dass er eine komplexe Gesellschaft in knappen Augen entstehen lassen kann. Wenig wird erklärt, stattdessen kann der Leser sich aus dem Endergebnis den geschichtlichen Verlauf in der Alternativwelt zusammenreimen. Nur sporadisch werden Hinweise geliefert, woran die unterschiedliche Entwicklung zu unserer Welt liegen könnte. Es kristallisiert sich heraus, dass die fiktive Ermordung Franklin D. Roosevelts der Auslöser für die andere Entwicklung war.
Geschickt webt Dick einen Roman in seinen Roman. Unter dem Titel „Die Plage der Heuschrecke“ veröffentlicht ein Südstaaten-Autor die Geschichte der siegreichen Alliierten. Jeder Charakter kommt in irgendeiner Form mit diesem Buch in Berührung, obwohl es von den Nazis verboten und von den Japanern nur toleriert wird. Dadurch erfährt der Leser Ausschnitte aus der Geschichte des Buches. Die Alliierten gewinnen zwar, aber die Geschichte nimmt dennoch einen anderen Verlauf. Großbritannien setzt sich in der nunmehr dritten Alternativwelt durch und lässt das britische Imperium wiederauferstehen. Dieser Version der Realität zeigt zum einen, dass die Bewohner einer japanisch-deutsch dominierten Welt sich keine pluralistisch-demokratische Weltordnung vorstellen können – denkt man heute. Denn 1962 bestand in der west–ost-Konfrontation ja noch die realistische Gefahr eines dritten Weltkrieges. Letztlich spielt Dick hier also mit verschiedenen Blockmöglichkeiten.
Erwähnenswert ist die wiederholte Rolle des titelgebenden Orakels. Hier stellt sich gegen Ende heraus, dass dessen Tipps das Buch „Die Plage der Heuschrecke“ ermöglicht haben. Das große Vertrauen der Japaner und der Bürger in den von ihnen besetzten Gebieten in das Orakel ist beachtlich, fast alle Charaktere benutzen es als Grundlage für ihre Entscheidungen.
Der Roman ist zusätzlich berührend, weil er Amerikaner in einer unterdrückten Rolle zeigt. Das ist man sonst nicht gewöhnt. Die Besatzungsregime sind dabei so gesichert, dass niemand an Widerstand zu denken scheint. Es wird von keinem Charakter daran gedacht oder davon berichtet. Zwar gibt es nach der Lektüre der „Plage der Heuschrecken“ durchaus Gedanken darüber, ob der jetzige Zustand richtig ist. Aktionen werden aber keine geplant. Auch gegen die Deutschen Verbrechen regt sich kein Widerstand. Das Reich leidet trotz seiner geographischen Stärke und seiner technologischen Übermacht an Führungsquerelen und einer schwachen Wirtschaft. Das nutzen aber weder die Japaner noch Widerstandsgruppen. Das Grauen muss akzeptiert werden, die Bürger der Erde arrangieren sich damit. Im Vergleich dazu wirkt das Japanische Kaiserreich wie ein Hort der Toleranz. Die japanischen Besatzer, mit ihrer Begeisterung für die untergegangene amerikanische Kultur wirken fast ein wenig niedlich. Das ist erschreckend, schließlich war das Kaiserreich ebenfalls für viele Verbrechen verantwortlich.
Interessant ist eine Szene, in der ein japanischer Firmenchef sich im Wahn unsere heutige Welt vorstellt. Die vielen Autos, die in der Welt des „Orakel vom Berge“ durch Raketen ersetzt sind, und die weiße amerikanische Mehrheitsgesellschaft sorgen bei ihm für ein schreckliches Bild von unserer Realität.
Philip K. Dick zeigt mit „Das Orakel vom Berge“, welches schlimme Schicksal die Menschheit erlitten hätte, hätten die Alliierten den zweiten Weltkrieg nicht gewonnen. Das ist noch keine Leistung, die knappe, dennoch komplex und realistisch wirkende Darstellung zusammen mit der erschreckenden Darstellung der angepassten, relativ gut lebenden und jeder Möglichkeit des Widerstand beraubten Amerikaner machen den Roman sehr lesenswert.