Die Chronik der Sperlingsgasse (von Wilhelm Raabe)

„Die Chronik der Sperlingsgasse“ ist 1858 als erster Roman von Wilhelm Raabe erschienen und wird dem bürgerlichen Realismus zugeordnet. Anders als die bisher von mir gelesenen Fontane-Romane zeichnet sich das Buch jedoch nicht durch eine klare Sprache aus, sondern überrascht mit einer verwirrenden Erzählstruktur.

Johannes Wachholder entscheidet sich, eine Chronik der Sperlingsgasse in Berlin zu verfassen. Das Buch ist somit nicht in Kapitel eingeteilt, sondern in Chronikblätter, die mit dem jeweils aktuellen Datum versehen sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Ereignisse des genannten Tages zusammengefasst werden. Stattdessen blickt Wachholder in die Vergangenheit zurück, berichet von einer Geschichtenrunde in der Sperlingsgasse, in der über Vergangenes berichtet wird, oder lässt aktuelle Bewohner der Sperlingsgasse zu Wort kommen.

In erster Linie berichtet der fiktive Wachholder über Alltagssituationen. Ein roter Faden ist die Ziehtochter Elise. Sie ging aus der Bezeihung zu Wachholders Jugendfreund Franz Ralff und Wachholders Jugendliebe Marie hervor. Beide Bekannte Wachholders starben sehr jung, sodass er sich um ihre Tochter kümmert.

Die Szenen lesen sich teils vergnüglich, teils etwas langatmig. Immer wieder bringt Raabe jedoch Kritik an den herrschenden Verhältnissen unter. So wird ein Freund Wachholders der Stadt verwiesen, da er sich politisch falsch geäußert hat. An anderer Stelle werden durch die Erzählung einer alten Frau die Befreiungskriege gegen Napoleon kommentiert. Das kann man jedoch auch überlesen. Darauf geht das sehr gelungene Nachwort ausführlich ein: Denn während Raabe wohl durchaus politische Absichten mit dem Werk hatte, wurde es von einem Publikum nicht nur verspätet aufgenommen, sondern vor allem als reine Unterhaltungslektüre betrachtet.

Als Unterhaltungslektüre taugt das Werk wenig. Die kleinen Geschichten zwischendurch können eben so wenig fesseln wie das Aufwachsen Elises und ihre abschließende Hochzeit. Der zwischen düster, resignierend und lebensfroh, optimistisch schwankende Ton Wachholders trägt ebenfalls nicht dazu bei, dass die Chronik unterhaltsamer wirkt.

Betrachtet man jedoch die politischen Aspekte des Werkes sowie Raabes abschließenden Aufruf an Dichter, wirkt der Text deutlich interessanter. Die interessanteste Seite ist die Kritik an der bürgerlichen Resignation zum Beispiel im während der Vergangenheitserzählung der Chronik vorherrschenden Biedermeiers. Der Doktor, der aus Berlin verwiesen wird, zieht nach München, beendet dort seine politische Betätigung, heiratet, resigniert und verfettet. Dieser Resignationsprozess wird zwar mit einem Augenzwinkern beschrieben, erscheint allerdings nicht als ein erstrebenswerter Lebenslauf. Zum Schluss ermahnt Wachholder Dichter, nicht zu schreiben, was „euer Volk entmutigen“ könnte. Er ergänzt, dass Dichter alles von schelten bis spotten schreiben können. Nur Resignation dürften sie damit nicht auslösen. Das sollten sich auch heute noch einige Autoren in Deutschland zu Herzen nehmen.

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