Europe Central (von William T. Vollmann)
|Als Auseinandersetzung um die „Schaltstelle Europa“ (Europe Central) stellt William T. Vollmann den zweiten Weltkrieg dar: Es ringen zwei ähnlich totalitäre Regime, das nationalsozialistische Deutschland und das stalinistische Russland um die Vorherrschaft. In 37 Kapiteln von unterschiedlicher Länge stellt er Protagonisten der russischen und deutschen Seite, untermauert mit vielen Quellenverweisen, dar und zieht immer wieder Parallelen zwischen den beiden Seiten. Der Zeitraum dieses nicht chronologisch strukturierten Werkes umfasst die Jahre 1914 bis 1975, die in unterschiedlichem Detailreichtum nacherzählt werden. Vollmann verwendet eine Vielzahl real-existierender Protagonisten, konzentriert sich jedoch hauptsächlich auf Künstler wie Dimitri Schostakowitsch und Käthe Kollwitz und auf Militärs wie Paulus und Wlassow. Bei den beiden Generälen werden zum Beispiel Parallelen ihres militärischen Falls sowie ihrer anschließenden Kollaboration mit der Gegenseite gezogen. Trotz der peniblen Dokumentation vieler Zitate bleibt das Werk, auch nach Vollmanns Aussage, in der Fiktion verortet; vor allem das dominierende Thema, Shostakovich Seelen- und Gefühlsleben, ist zu weiten Teilen erfunden.
Auffällig ist an dem umfangreichen Werk zunächst die Erzählperspektive. Der Erzähler weiß ungemein viel über die gerade auftauchenden Charaktere. Dennoch ist es ein Erzähler, der klar in der Handlung verortet ist, selbst aber immer nur als dritte Person in der Handlung auftaucht. In aller Regel sind es Geheimdienstler entweder der Nazis oder der Bolschewisten. Obgleich diese Erzählweise zum Beispiel im Fall Käthe Kollwitz zu Beginn kaum auffällt, bricht die Verortung des Erzählers im Überwachungsmilieu in späteren Kapiteln immer deutlicher durch. Dies erscheint zunächst umständlich. Nach einer Weile ist man jedoch an die Erzählweise gewöhnt und wird von ihr geradezu durch den Roman getrieben. Die Perspektive untermauert zudem eine zentrale These Vollmanns: Der Ton unterscheidet sich kaum zwischen deutschen und russischen Spitzeln. Beide schauen auf ihre „Subjekte“ ähnlich herablassend herunter und haben sichtliche Freude daran, alles über sie zu wissen.
Allerdings gib es eine deutliche Schieflage in der Auswahl der Szenen des Romans: Die russische Seite wird ausgiebig beleuchtet, während deutsche Protagonisten in der Regel lediglich in sehr kurzen Kapiteln vorgestellt werden. Dies liegt in erster Linie an der herausragenden Stellung, die Schostakowitsch in dem Roman einnimmt. Seine Auseinandersetzung mit seinem Gefühlsleben aber auch die (unfreiwilligen) Konflikte mit dem ihn umgebenen System werden ausschweifend behandelt. Sie verdeutlichen, dass ein neutraler Standpunkt im Stalinismus quasi unmöglich ist und welche Opfer ein Künstler bringen muss, um zum Beispiel seine Musik veröffentlichen zu können. Der Stalinismus und auch das anschließende kommunistische Regime werden dabei als das einengende, bedrohliche und grausame System dargestellt, das sie vermutlich waren. Gleichzeitig erscheint der Nationalsozialismus genauso menschenfeindlich und schlimm wie der Kommunismus – und dieses genauso schlimm wirkt arg relativierend.
Die ausführlichsten Auseinandersetzungen mit deutschen Persönlichkeiten sind die Beschreibungen des General Paulus bei Stalingrad und des SS-Mann Gersteins. Erster wird als loyaler General dargestellt, der an der politischen Führung der Wehrmacht verzweifelt und nach seiner Gefangennahme als gebrochener Mann dargestellt wird, der dennoch daran glaubt, das Hitler-Regime bekämpfen zu müssen. (Der Werdegang Wasslows wird, inklusive ausschweifender Analyse der Ehe der beiden Generäle geradezu identisch geschildert). Gerstein wiederum ist als SS-Mitglied damit betraut, Konzentrationslager mit Giften zu beliefern. Der gläubige Katholik zerbricht innerlich an seiner Aufgabe. Dennoch führt er sie weiter aus, nicht aus Gehorsam, sondern um weitere Daten und Beweise für die nationalsozialistischen Verbrechen zu sammeln. Traurigerweise können diese Dokumente erst nach Kriegsende genutzt werden. Vollmann selbst schreibt, dass Gerstein in seinen Augen ein Held ist. So agieren alle Protagonisten zumindest in einem Bereich, den man sowohl aus moralischen als auch aus rationalen Gründen noch verstehen kann. Im Schlimmsten Fall müssen die Charaktere sich hier der (massenhaften) unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen – direkt an Vergehen beteiligt sind sie in der Regel nicht. Dabei stehen „einfache“ Personen, also Charaktere, die keine historischen Persönlichkeiten sind, nur äußerst selten im Zentrum des Romans. Insofern erscheint die These einer Gleichwertigkeit der beiden mörderischen Regime auf der Grundlage der ausgewählten Charaktere äußerst wackelig. Zudem bleiben die Grausamkeiten des zweiten Weltkrieges an vielen Stellen durch eine nachträgliche Erzählung ausgeblendet.
Abgesehen von der asymmetrischen Behandlung der Regime und der weitestgehend einseitigen Konzentration auf Künstler und Generäle, gelingt es Vollmann überzeugende Einblicke in diesen Personenkreis zu geben. In deren Folge erinnert er an viele vergessene Künstler und Militärs, deren Wirken bei den heute üblichen Darstellungen dieser Zeit meist ausgelassen wird. Aus dieser Perspektive lohnt sich der Roman nicht nur durch die weitestgehend mitreißende Erzählweise, sondern auch indem er den Kenntnisstand über Dichter und Streiter dieser Zeit erweitert. Somit bildet er die Grundlage für eine Auseinandersetzung mit ausgewählten (und in der Regel die Opfer-Seite vertretenden) Protagonisten der Sowjetunion und des Nazi-Reiches.