On a Red Station, Drifting (von Aliette de Bodard)
|Das Dai Viet Imperium steht unter Druck. In den Randsystemen erheben sich immer mehr Rebellionen. Doch der Imperator konzentriert sich lediglich darauf, die Kernwelten zu beschützen. In dieser Situation erhebt die junge Magistratin Linh ihre Stimme und ruft das Imperium zur Einheit und zum Widerstand gegen die Rebellen auf. Das Pamphlet hat nicht die gewünschte Wirkung. Anstatt zur Tat zu schreiten, wird sie ins Exil verwiesen und eine Verhandlung über ihr weiteres Schicksal eröffnet. So flieht Linh als Flüchtling nach Prosper Station. Die große Raumstation wird von Teilen ihrer Familie betrieben. Derzeit ist Quyen die Administratorin. Sie stammt aus einfachen Verhältnissen und hat nie dieselben Chancen wie Linh gehabt. Obwohl Linh den wahren Grund ihrer Ankunft verschleiert, ist das Verhältnis der beiden Frauen von Anfang an belastet. Als die in die Jahre gekommenen Ressourcen der Station zu Ende gehen und der Imperator auf Rache sinnt, müssen sich die beiden dennoch miteinander arrangieren, um die Station und damit das Erbe der Familie zu bewahren.
„On a Red Station, Drifting“ startet vermeintlich gewöhnlich. Ein mächtiges Imperium kann seine Randregionen nicht mehr halten. Dies führt zu internen Streitigkeiten und Menschen wie Linh, die ihren Lebensmittelpunkt in den Randregionen haben, rufen zu einem Richtungswechsel auf. Auch die Missgunst zwischen Linh und Quyen, auf der einen Seite von Arroganz und auf der anderen Seite von Minderwertigkeitsgefühlen angetrieben,wirken zunächst wenig originelle. Tatsächlich schafft de Bodard in dieser Novelle nicht einfach eine Variation einer Geschichte über untergehende Imperien und Familienstreitigkeiten. Stattdessen schafft sie eine tiefe, komplexe Kultur, die auf asiatischen Einflüssen beruht.
Zunächst einmal ist Prosper Station auf faszinierende Art verwaltet. Quyen ist die derzeitige Administratorin, da ihr Gatte auf einem Kriegsschiff dient. Ihr steht allerdings eine künstliche Intelligenz zur Seite, die zu Teilen aus den Komponenten eines früheren Familienmitglieds erschaffen wurde. Diese KI interagiert mit der Stationsverwaltung tatsächlich wie eine Großmutter und überwacht das Treiben auf der Station. Da sie recht alt ist, zeigt sie mittlerweile leichte Fehlfunktionen, die sich im Laufe der Geschichte immer weiter steigern. Das gibt der Erzählung den Hintergrund eines graduellen Niedergangs, der von den Protagonisten zwar erkannt, aber kaum gestoppt werden kann. Die KI nimmt ihre Rolle als Teil der Familie nicht nur ernst, sondern entwickelt selbst Präferenzen und Wünsche. So ist es ihr ein Anliegen, dass die elektronischen Erinnerungen ihrer Ahnen bewahrt werden und sie hat durchaus Interesse daran, bestimmte Personen zu treffen, z.B. eine imperiale Beamte, die Erinnerungen von Ahnen bei sich trägt, die an der Entstehung der Station mitgewirkt haben. Diese ungewöhnliche Stationskonstruktion ist die Metapher für den Kern der Geschichte: Die KI ist der Kern einer Familie, die Stück für Stück die Kontrolle zu verlieren droht.
Auf Prosper Station und im Imperium spielt das Geschlecht kaum mehr eine Rolle bei der Berufswahl. In dieser Meritokratie ist einzig die Fähigkeit, standardisierte Tests für einflussreiche Positionen zu bestehen, essentiell. Dennoch gibt es eine tradierte Hierarchie. Arme Menschen haben Schwierigkeiten, sich auf die Tests vorzubereiten. Aber auch Kinder reicher Familien, die die Tests nicht schaffen, müssen sich damit abfinden, als „geringergestellter“ Teil in eine Ehe zu gehen. Da man über mehrere Generationen in einer Familie gebunden ist und das Gesetz im Zweifelsfall Angehörige gleich mit bestraft, ist die Gesellschaft in Familieneinheiten eingeteilt. Prosper Station wird fast ausschließlich von Nachkommen einer großen Familie bewohnt. Dieses komplexe Gesellschaftsgebilde führt de Bodard durch Linhs Flucht geschickt in die Handlung ein. In der ersten Szene erlebt man wie Quyen ihre Cousine Linh an Bord lässt, obwohl ihr das widerstrebt. Sie weiß zwar nicht, dass der Imperator bereits diskutiert, alle Menschen, die Linh Unterschlupf gewähren, zu töten. Doch ihre Abneigung gegen Würdernträgern reicht aus, um ihrer Cousine zu misstrauen, was jedoch nichts gegen die Familienband ausrichten kann. Die strikte Familienhierarchie verlangt von jedem Menschen, das Wohl der Familie und damit im übertragenen Sinne der Station über das eigene zu stellen. Eine zentrale Thematik der Geschichte ist daher ein Familienmitglied, das einen unauflösbaren Widerspruch zwischen Loyalität gegenüber der Familie und seinem eigenen Glück sieht. Das ist eine sehr überzeugene und spannende Handlung, die zu der dramatischsten Situation der Novelle führt.
Der eigentliche Kern der Geschichte sind aber Linh und Quyen. Sie sind in vielen Aspekten das genau Gegenteil voneinander. Hier trifft eine priviligierte Frau, auf eine Systemadministratorin, die sich ihre Stellung hart erarbeiten musste. De Bodard erzählt „On a Red Station, Drifting“ abwechselnd aus der Perspektive beider Frauen. Dabei baut sie Sympathien für beide auf. Man fühlt mit Linhs Verlusten durch den Krieg mit, versteht, warum sie sich auf der Station unterfordert und von ihre Cousine ungerecht behandelt fühlt. Und man kann Quyens Ärger über die eigene Rolle als „geringergestellter“ Teil einer Ehe genauso nachvollziehen wie ihre (sehr berechtigte) Skepsis gegenüber Linhs Loyalität zur Station und zur Familie. Im Laufe der Novelle muss Quyen ihre Minderwertigkeitsgefühle überwinden und Linh muss sich vor ihre Familie stellen. Die beiden Frauen bekleiden beide starke Positionen in der Gesellschaft, doch durch die Erzählperspektive erlebt man ihre Gefühle und Motivationen hinter ihrer professionellen Fassade. Gleichzeitig erlebt man, wie beide im Verlauf der Handlung über sich hinaus wachsen, wegweisende Entscheidungen treffen und dabei für sich ein Stück Zufriedenheit in der Familienstruktur schaffen. Das ist vordergründig langsam erzählt. De Bodard verzichtet z.B. fast vollständig auf direkte Gewalt. Stattdessen schafft sie durch die durch gesellschaftliche Vorgaben strukturierten Dialoge ein mitreißendes, unterhaltsames und tiefgründiges Panorama einer asiatisch geprägten Gesellschaft der Zukunft und vor allem ihrer beiden gelungenen und sympathischen Handlungsträgerinnen.