Carnival Nine (von Caroline M. Yoachim)

Zee hat Glück. Sie hat eine sehr gute Triebfeder und hat daher jeden Tag viele Züge, in denen sie sich bewegen kann oder Dinge tun kann. Allerdings findet sie ihr Leben in der Stadt mit ihrem Vater eintönig. Ihre Mutter ist eine Künstlerin in einem Karneval. Zees größter Wunsch ist, sie einmal zu treffen. Doch als das Treffen endlich zustande kommt, ist es eine herbe Enttäuschung: Ihre Mutter gibt ganz offen zu, dass sie ihre Züge für niemand anderen als sich selbst einsetzen möchte. Doch der Karnevalsbesuch hat auch einen Vorteil: Zee lernt Vale kennen, mit dem sie bald zusammen auf dem Karneval ein Geschäft leitet und gar ein Kind zusammen baut und es Mattan nennt. Doch Mattan hat pro Tag extrem wenige Züge zur Verfügung, ist also in seiner Bewegung eingeschränkt. Zee bemüht sich nach Kräften, doch Vale kann mit Mattans Behinderung nicht umgehen. Zee zieht in die Stadt zurück und verwendet ihre gesamte verfügbare Zeit darauf für Mattan und ihren Vater zu sorgen. Zee schafft dies, ist aber unzufrieden. Als der Karneval wieder in die Stadt kommt, sucht sie Vale auf. Zu ihrer Überraschung trägt er Schuldgefühle gegenüber seiner Familie mit sich und überredet Zee wieder mit ihm zusammenzuziehen. Zwar stirbt ihr Vater ausgerechnet an dem einen Tag, an dem sie sich frei genommen hat. Doch dafür sind Zee, Mattan und Vale wieder vereint, kümmern sich gemeinsam umeinander bis zum Ende von Zees Lebensspanne. Mattan wird so gut in die Karnevalgemeinschaft integriert, dass nach Zees Tod andere Leute sich weiterhin um ihn kümmern.

Yoachim erschafft in ihrer Kurzgeschichte eine Welt von aufziehbaren Spielzeugen, die jeden Tag nur so viel Zeit zur Verfügung haben, wie sich ihre Antriebsfeder nach dem Aufziehen drehen kann. Diese Welt ist faszinierend. Denn ihre Bewohner haben viele Fähigkeiten. Zees Mutter verfügt zum Beispiel über Spinnenbeine, die sie zu einer beeindruckenden Artistin machen. Allerdings ist auch sie natürlich den Einschränkungen ihrer Antriebsfeder unterworfen. Die Bewohner pflanzen sich nicht direkt fort, sondern bauen sich ihre Kinder zusammen. Dabei ist fast alles außer der Antriebsfeder variable, was ebenfalls für eine recht faszinierende Atmosphäre sorgt.

Zee sucht das Abenteuer. Es zieht sie hinaus in die große Welt, zu ihrer Mutter, aber auch zu dem im Vergleich zu der Stadt spannenderen Karneval. Insfoern ist „Carnival Nine“ auch eine Geschichte darüber, wie ein junger Mensch lernt, Verantwortung zu übernehmen. Zee versteht ihre Mutter, verspricht sich selbst aber auch, niemals auf diese Art vor Verantwortung zurückzuweichen. Dieser Trick, Zees Beständigkeit aus ihrer Familiengeschichte abzuleiten, ist nicht besonders originell. In der Erzählung funktioniert er aber sehr gut, denn das lang ersehnte Treffen zwischen Zee und ihrer Akrobatenmutter ist sehr überzeugend in Szene gesetzt.

Die zweite Hälfte der Kurzgeschichte macht einen überraschenden Wandel. Zunächst lernt man, dass auch die Spielzeuge in ihren Fähigkeiten eingeschränkt sein können. Die Besitzer würden sie vermutlich einfach für kaputt halten. Diesen Eindruck hat Vale von seinem Sohn auch, sodass es ihm nicht gelingt eine vernünftige Beziehung aufzubauen. Zee sieht das anders und setzt sich beeindruckend für ihren Sohn ein. Dieser Teil der Erzählung ist herzergreifend, denn das Leben von Mattan ist nur möglich, weil sich seine Mutter für ihn einsetzt. Dementsprechend sind vor allem Zees Sorgen darüber, was aus Mattan nach ihrem Tod wird, sehr verständlich. Hier baut Yoachim ein überraschendes Happy End in die Geschichte ein. Vale entdeckt sein Gewissen und kehrt zu seiner Familie zurück. Mattan ist am Ende so gut integriert, dass andere Menschen sich um ihn mitkümmern. Diese Wendungen wirken ausgesprochen unwahrscheinlich. Warum verhalten sich nicht alle Spielzeuge so distanziert wie Zees Mutter? Und doch ist dieser Twist alles andere als unwahrscheinlich. Denn schließlich gibt es unzählige Menschen, die sich mindestens genau so aufopferungsvoll und unter genau so vielen Strapazen um ihre behinderten Kinder kümmern. Insofern ist Zees Lebensgeschichte mit ihrem befriedigenden Ende deutlich näher an der Realität als jeder alternative, tragischere Ausgang. Yoachim verbindet in „Carnival Nine“ damit eine faszinierende Spielzeugfigurenwelt, die allerlei Kuriositäten bereit hält, mit einer optimistischen Geschichte einer Frau, die das Abenteuer sucht und Verantwortung für ihre Kinder und vor allem Liebe findet.

Die Kurzgeschichte „Carnival Nine“ von Caroline M. Yoachim ist 2017 in der Anthologie „Beneath Ceaseless Skies“-Magazin erschienen. Sie ist außerdem ein Beitrag in der Anthologie „The Best American Science Fiction and Fantasy 2018“, herausgegeben von N.K. Jemisin und John Joseph Adam.

One Comment

Add a Comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert