Die Getriebenen (von Robin Alexander)
|„Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Inneren der Macht“ verspricht der Untertitel des Buches mit dem klaren Titel „Die Getriebenen“. Wirklich getrieben wird in dieser Politikinterpretation jedoch nur eine Akteurin: Kanzlerin Merkel. Der Untertitel ist daher deutlich stimmiger. „Die Getriebenen“ konzentriert sich ausschließlich auf die Führungsebene der Politik (und zum Teil der deutschen Ministerialverwaltung sowie der europäischen Kommission). Und da die sozialdemokratischen Ministerien hinsichtlich der Flüchtlingssituation während der Großen Koalition kaum Kompetenzen haben, ist Alexanders Darstellung zu großen Teilen eine Beschreibung des Kampfes um die Deutungshoheit innerhalb der CDU/CSU.
Das sehr erfolgreiche Buch wird weitestgehend mit einer Botschaft aufgenommen: Schuld für die langsame Reaktion der Bundesregierung auf die Flüchtlingskrise und damit auch für die daraus resultierenden Verwerfungen in Europa ist zu einem großen Teil Angela Merkel. Sie habe sich mit immer neuen Argumenten hinter einer angeblichen Alternativlosigkeit (der offenen Grenzen) versteckt, obwohl dies völlig falsch sei (schließlich seien die Grenzen mittlerweile geschlossen). Außerdem habe sie sich – wie immer in ihrer Kanzlerschaft – eher von Umfragen leiten lassen und versucht die positive Stimmung im Land zu nutzen. Dadurch habe sie jedoch das völlig falsche Signal weltweit gesendet, die Krise noch verschärft und es vor allem verpasst, die Bevölkerung auf die Risiken vorzubereiten. Das ist eine Deutung.
Andererseits macht Alexander aber auch zwei gegenteilige Beobachtungen. Auf der einen Seite scheint in der Flüchtlingskrise erstmalig in Merkels Kanzlerschaft so etwas wie ein fester Standpunkt erkennbar zu sein: Aus ihrer christlichen Grundeinstellung heraus, leitet sie den Anspruch ab, die Krise so human wie möglich zu lösen. Schüsse und Gewalt an Grenzen gehören nicht in diese Vision. Das ist die moralische Deutung. Auf der anderen Seite leitet sich aus Merkels Handlung aber auch eine rationale, verantwortungsbewusste Interpretation ab. Während Skeptiker und Hysteriker die umgehende Schließung der Balkanroute fordern, zieht Merkel nicht mit. Das kann man ihr als verantwortungslos auslegen, denn dadurch ‚enden‘ die Flüchtlinge letztlich in Deutschland. Man kann dies aber auch verantwortungsvoll auslegen. Denn jede Grenzschließung löst eine Kettenreaktion aus und am Ende stranden Flüchtlinge entweder auf dem (instabilen) Balkan oder im (ebenso instabilen und so gut wie bankrotten) Griechenland. Auf dem Balkan könnten dadurch gewalttätige Konflikte wieder ausbrechen, in Griechenland könnte der Euro endgültig scheitern. Insofern geht es Merkel bei ihrem Ziel nicht allein um Deutschland, sondern auch darum, Frieden und Stabilität in Europa zu sichern. Das dies nur um den Preis europaskeptischer Erfolge in Ungarn, Polen und vielen anderen Ländern erreichbar ist, ist tragisch. Dennoch ist die (nicht immer populäre) Grundüberzeugung durchaus verantwortungsvoll und vermutlich nur möglich, wenn man wie Merkel bereits viele Jahre im Amt ist.
Der Text selbst ist wie ein Krimi reißerisch, detailliert und dennoch nicht immer sachlich geschrieben. Ironischerweise wird Merkel nicht immer getrieben. Wie die meisten Regierungen in Europa, hat Deutschland die drohende Krise unterschätzt bzw. ignoriert. Doch sobald sie ausbricht hat Merkel zwar keinen Plan, aber ein Ziel, wie die Krise beendet werden soll. Daran hält sie fest, egal wie widrig die Umstände sind. Das kann man, wie oben beschrieben, verbissen oder aber verantwortungsbewusst nennen. Im Text sieht sich Merkel jedoch mit einer Reihe von Akteuren konfrontiert, die ihr entweder kategorisch widersprechen oder aber in der Krise einen Moment sehen, politisches Kapital zu schlagen. Es ist nicht immer klar, wer in welche Kategorie gehört. Deutlich wird aber, dass Merkel mit ihrer ruhigen, sachlichen (und teilweise auch Umfrage-fokussierten) Art allein auf weiter Flur steht. Weder ihre europäischen Partner, noch ihre Gegner, weder ihre eigene Partei noch ihre Koalitionspartner stehen hinter ihr. Als größten (rationalen) Gegenspieler baut Alexander den österreichischen Außenminister (und heutigen Kanzler) Sebastian Kurz auf. Dieser drängt vehement darauf, die Balkanroute zu schließen. Das bedeutet aber nur, das ‚Problem‘ in Richtung Griechenland zu verschieben. Merkel wiederum drängt mit dem Türkei-Deal darauf, das ‚Problem‘ in Richtung Türkei bzw. Syrien zu verschieben. Das ist demütigend (durch ihr schlechtes Verhältnis zu türkischen Politikern) und teuer. Aber – aus Merkels Sicht – im Sinne Europas und nicht – wie Merkel Kurz sieht – nur im Sinne des eigenen Landes. Während Alexander Merkel also nicht gerade in positivem Lichte darstellt, erweckt seine Darstellung auch bei Lesern, die Merkels abwartenden und scheinbar beliebigen Politikstil kritisch sehen, Sympathie für ihre Position: Die deutsche Kanzlerin scheint die einzige zu sein, die unter den vielen suboptimalen und problematischen Lösungen die Konsequenzen nicht nur für ihr eigenes Land, sondern für die EU als Ganzes mitdenkt. Merkels Politik hat bekanntlich eine Reihe negativer Konsequenzen. Die AfD etabliert sich in Deutschland, das Problem wird zu einem großen Teil nur verschoben und viele Beziehungen zu Nachbarstaaten werden beschädigt. Gleichzeitig verhindert es aber auch eine Totalkatastrophe wie einen Kollaps der Flüchtlingsversorgung in Griechenland. Alexander konzentriert sich auf die negativen Aspekte, die positiven muss der Leser selbst herausarbeiten.
Zuletzt ist es interessant, das Alexander genaue Beschreibungen des Gemütszustands aller Protagonisten hat. Der verletzte Erdogan, der enttäuschte und entsetzt Seehofer, der egoistische Kurz, sie alle sind detailliert beschrieben. Die Kanzlerin wiederum bietet diese Einblicke nicht. Es wirkt als habe Alexander hier weniger Einblicke als in andere Akteure, ihm bleibt meist nur übrig zu spekulieren und zu interpretieren, was Merkel wohl umtreibt. Und das ist der Aspekt an Alexanders Wut auf die deutsche Krisenpolitik, die man einfach nachvollziehen kann: Merkels gleichzeitig zurückhaltend und schwammige Art der Kommunikation, die ihre Lösung unter Ausschluss der Öffentlichkeit und des Parlamentes durchzieht, genügt weder hohen demokratischen Ansprüchen noch eignet sie sich dafür, eine besorgte Bevölkerung zu beruhigen. Ihr abwägender Politikstil mag dem Land gut tun, in Krisenzeiten vielleicht zu langsam und auf Kooperation vertrauend sein. Er eignet sich aber nicht dafür, einem verunsicherten Land mehr als ein „Wir schaffen das“ anzubieten. Und so fehlt es an „Die Getriebenen“ nicht an Diskussionen unter Spitzenpolitikern. In der Öffentlichkeit nimmt die Bundeskanzlerin an diesen Diskussionen jedoch nicht als Teilnehmerin (mit ihrer von Alexander herausgearbeiteten Position), sondern als Entscheiderin (mit Verweis auf die „Alternativlosigkeit“) teil.
So ist „Die Getriebenen“ ein Lehrstück wie die mächtigste Politikerin Europas eine völlig unvorbereitete Regierung (und einen völlig unvorbereiteten Kontinent) versucht durch eine Identitätskrise zu steuern, dabei trotz einer endlosen Zahl an Gegenspielern zu einer Notlösung findet, aber nicht in der Lage ist durch eine Teilnahme an der demokratischen Debatte, weite Teile ihrer Bevölkerung und vor allem ihres eigenen Wählerklientels mitzunehmen. Alexander macht diese Geschichte trotz des aufgeregten Tons zu einem interessanten und erhellenden Lehrstück und wegen des aufgeregten Tons zu einer spannenden Lektüre.