Bella Germania (von Daniel Speck)

Julia steht mit ihrem Geschäftspartner 2014 kurz vor dem Durchbruch in der hart umkämpften Modebranche. Doch nach ihrem ersten großen Erfolg in Mailand taucht ein alter Mann auf, der sich nicht nur als Vincent, sondern auch als ihr Großvater vorstellt. Von ihm erfährt Julia, dass ihr Vater keineswegs tot ist, obwohl ihre Mutter dies so dargestellt hat. Nach anfänglichem Zögern ist Julia bereit, sich mit ihrer Familiengeschichte auseinanderzusetzen, die 1954 beginnt. In diesem Jahr begab sich Vincent im Auftrag von BMW nach Mailand und lernte Giulietta kennen – die bereits einem anderen Mann versprochen war.

„Bella Germania“ hat eine Stärke: Die Einbettung der Handlung in die soziale Situation der Gastarbeiter in Deutschland ist sehr gelungen. Der 2016 kurz nach der Flüchtlingskrise erschienene Roman zeigt auf, welche Ablehnung junge Italiener im Deutschland der 50er und 60er Jahre erfuhren, obwohl ihre Arbeitskraft dringend benötigt wurde. Die Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit ist sehr eindringlich getroffen und die Stimmungsschwankungen der deutschen Bevölkerung und deutscher Politiker werden unaufdringlich in die Handlung eingewoben. Der Roman erinnert damit zunächst an das harte Schicksal der ersten Gastarbeitergeneration. Er zeigt aber auch, dass die Mentalität gegenüber nicht-Deutschen ständig im Wandel begriffen ist und in der Regel von aufgeregten und rassistischen Reaktionen durch individuelle Leistungsbereitschaft und viel Mühe zu einem normalen Miteinander führen kann.

Doch der Roman leidet gleichzeitig unter einer Reihe substantiver Schwächen. Zunächst ist der Roman in einem aufgeregt melancholisch-wehleidigen Ton verfasst. Alle Hauptfiguren leiden beziehungsweise befinden sich permanent in einem Wechselbad der Gefühle. Hier hat niemand einen Ruhepol, Unzufriedenheit bestimmt jedes Handeln. Das könnte durchaus eine Quelle für eine interessante Handlung sein. In „Bella Germania“ ist jedoch jede Erkenntnis an dem Familienpuzzle ein weltbewegendes, in der Regel erschütterndes Ereignis. Angesichts der Tatsache, dass Julias schockierendste Erkenntnis womöglich bereits die Tatsache ist, dass ihr Vater noch lebt, wirkt dies an den meisten Stellen lediglich albern. Ein Beispiel auf einer zufällig geöffneten Seite (277): „Ich staunte. Mein flauer Magen machte mich schwindlig, während meine Gedanken versuchten, die verschiedenen Versatzstücke dieses Menschen zu einem schlüssigen Bild zusammenzufügen. Es gelang nicht. Giovanni wollte, dass ich Vincenzo bewunderte, aber was ich wirklich empfand, als ich vor diesen Devotionalien stand, war das Gefühl, belogen worden zu sein.“ Diese Reaktion empfindet Julia nicht etwa nach dem Schock, dass ihr Vater noch lebt, sondern nach der Betrachtung eines Fotos mit ihm. Eine nüchternere emotionalere Reaktion hätte vielen Szenen mehr Stärke gegeben.

Darüber hinaus sind alle Protagonisten Typen, wirkliche Charaktere sucht man vergeben. In der Gegenwart wundert und weint sich Julia durch die Handlung, ohne dass sie mit jedem Schritt wächst. In der Vergangenheit ist jeder Charakter gefangen in seinen Traditionsvorstellungen, ohne sich daraus auch nur ein Stück zu befreien. Mal wird die alte sizilianische Mutter ungeläutert ins Grab geschickt, Versöhnung ist hier nicht zu erwarten. An einer anderen Stelle lobt der alte Giovanni die Bindung der Familie auch dann noch über den grünen Klee, wenn sie bereits unvorstellbares Unglück über alle Beteiligten gebracht hat. In „Bella Germania“ lernt niemand aus vorherigen Ereignissen. Stattdessen ist jeder Protagonist damit beschäftigt, sich selbst im Weg zu stehen.

Dazu kommt, dass die Handlung äußerst konstruiert ist und in der ersten Hälfte jede Entwicklung absehbar ist. Im Zentrum der Handlung steht das Gefühl der Eifersucht, das durch Traditionen und alte Wertvorstellungen unterstützt wird. Im Zusammenspiel mit der Nachkriegsbeziehungsmoral sorgt dies für eine vorhersehbare Katastrophe nach der anderen. Erst ab der Hälfte des Romans gelingt es dem Autor, schrittweise unvorhergesehene Wendungen einzubauen. Doch auch diese bleiben zu langatmig, um der Erzählung wirkliche Spannung zu verleihen.

Und obwohl der Roman mit über 600 Seiten teilweise zu lang für die dünne Handlung ist, bleiben Handlungsstränge offen. Auf den letzten Seiten wird überraschend ein Familienmitglied rehabilitiert, eine langjährige Ehe geschieden und eine zunächst aussichtslose berufliche Karriere neues Leben eingehaucht. Nach einem Roman, der sich in Wiederholungen und Details verliert, wirkt dies wie ein liebloses Ende: Denn gerade in diesen Situation hätten die Protagonisten einen tatsächlichen Entwicklungsschritt einnehmen können. Dafür hätte sich der Roman aber um die Verarbeitung der Erfahrungen drehen müssen, nicht nur um die aufgeregte Abarbeitung vergangener Enttäuschungen. So bleiben alle Protagonisten in ihrer Ausgangssituation gefangen.

„Bella Germania“ ist letztlich immer dann gut, wenn es die Träume und Hoffnungen der Protagonisten auf ein besseres Leben im Kontext der Gastarbeiterthematik oder der modernen Arbeitsgesellschaft aufgreift. Die eigentliche Familienhandlung nimmt erst im letzten Drittel des Romans wirklich Fahrt auf und wird geradezu lieblos abgeschlossen. Trotz des großen Potenzials, dass in dem Zusammenstoß traditionellen Lebens mit den Herausforderungen der unübersichtlich gewordenen modernen Welt steckt, bleibt der Roman vor allem durch die permanente, melancholische Wehleidigkeit seiner Protagonisten in Wiederholungen und Stereotypen gefangen.

Add a Comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert