Peking Falten (von Hao Jingfang)
|Lao Dao wohnt in Pekings drittem Sektor. Hier wohnen 50 Millionen Menschen und dürfen, die acht von 48 Stunden in der Nacht wach und arbeitend verbringen dürfen. Nach dieser Zeit faltet sich der Stadtteil zusammen, um Platz für einen anderen zu machen. Er möchte seiner Ziehtochter eine gute Bildung ermöglichen, sein Gehalt aus der Arbeit in einer Müllverbrennungsanlage reicht dafür jedoch nicht aus. Daher kommt ein Auftrag aus dem zweiten Sektor gerade recht. Quin Tan, ein Student, der zusammen mit 25 Millionen anderen Menschen im zweiten Sektor 16 von 48 Stunden tagsüber wach sein darf, hat sich bei einem Praktikum im ersten Sektor unsterblich in Yi Yan verliebt. Diese wohnt im ersten Sektor, in dem fünf Millionen reiche Menshcen 24 von 48 Stunden wach verbringen dürfen. Lao Dao soll unter der Gefahr hoher Strafen eine Botschaft in den ersten Sektor schmuggeln. Dies gelingt ihm, er findet dabei jedoch heraus, dass Yi Yan in einer langweiligen Ehe feststeckt und den jungen Studenten als Reserveoption hält. Bei seiner Rückkehr wird er beinahe von der Polizei erwischt, kann jedoch in letzter Sekunde von einem Wachmann gerettet werden, der sich unter harter Arbeit vom dritten in den ersten Sektor hochgearbeitet hat. In dessen Gefolge erfährt er, dass alle Arbeiten im dritten Sektor und damit die Existenzen der 50 Millionen Menschen längst kostengünstig automatisiert werden könnten. Nur wüssten die Reichen dann nicht mehr, wie sie die armen Menschen überhaupt beschäftigen sollten. Lao Dao kehrt in seinen Sektor, zu seiner Arbeit, aber mit etwas mehr Geld zusammen und setzt seine Hoffnung darin, dass seine Ziehtochter sich vielleicht eines Tages hocharbeitet.
„Peking falten“ ist eine beeindruckende Metapher auf soziale Ungleichheit. Niemand möchte gerne daran erinnert werden, dass es Standesunterschiede gibt. In der Regel wird Ungleichheit daher von allen Seiten am liebsten verschwiegen und so unsichtbar wie möglich organisiert. „Peking falten“ überspitzt diese Scheinheiligkeit. Da arme Menschen sowieso weniger an der Gesellschaft teilhaben können, wird ihre wache Zeit radikal verkürzt. Da ihr Anblick andere stören könnte, werden sie außerhalb ihrer Arbeitszeit wortwörtlich zusammengefaltet. Übertritte sind stark reguliert, Sektorenübertritte werden mit strengen Strafen geahnt. Auf diese Weise lässt man Missstände wortwörtlich verschwinden und der zweite, vor allem aber der erste Sektor ermöglicht seinen Bewohnern ein weitgehend unbeschwertes. Leben. Das ist ein beklemmender und kalter Blick. Er wirkt um so eindringlicher, je mehr einem bewusst wird, dass er bereits heute von vielen Menschen gelebt wird.
Die Erzählung erkundet die drei Sektoren, Lao Dao trifft authentische Bewohner aus jedem Sektor. In erster Linie erzählt sie aber davon, dass der technische Fortschritt hier bewusst gestoppt wurde. Was sollen denn die armen Leute tun, wenn man ihnen ihre elenden Jobs weg nimmt? An dieser Stelle gibt es einen bitteren Verweis auf westliche Gesellschaften, die durch die Ausweitung des Wohlfahrtsstaats versucht haben, das Problem zu lösen und dabei beinahe in den Bankrott geraten sind. Diese Vision Pekings versucht daher gar nicht erst, allen Menschen ein anständiges Leben zu ermöglichen. Wer schlechte Arbeit hat, kann diese unbesorgt weiter ausführen, lebt halt nur im Mangel und in unendlicher Dunkelheit. Auf diese Weise regt „Peking falten“ nicht nur zum Nachdenken darüber an, wie ungleiche Gesellschaften zusammenleben sollten, sondern auch wie Arbeit und Fähigkeiten angemessen verteilt werden können.
Allerdings geschieht in „Peking falten“ relativ wenig. Auf der einen Seite wird viel und gut erklärt. Obwohl auf engem Raum viele Informationen vermittelt werden, wirkt die Erzählung nie belehrend. Besonders sticht jedoch eine Schwachstelle heraus: Warum verzichten auch die reichen Bewohner Pekings auf jeden zweiten Tag? Warum leben sie nicht in einem Stadtkern, in permanentem Glück, während um sie herum die ärmeren Sektoren auf- und zufalten? Und wie verhält es sich mit der Grenze zum Umland der Stadt? Dass sich diese Fragen aufdrängen, zeigt jedoch in erster Linie, wie faszinierend diese Zukunftsversion ist. Schwerer wiegt, dass Lao Dao die gesamte Geschichte über ein stiller Beobachter ist. Seine einzige Entscheidungen sind die Annahme des Auftrags sowie die Annahme einer Bestechungssummer, aufgrund der er Quin Tan belügen wird. So bleibt von Lao Dao letztlich nichts außer seiner Liebe zu seiner Ziehtochter übrig. Das faszinierende Setting hätte einen faszinierenden Charakter vertragen.
Es ist jedoch eine Stärke der Novelette, dass es keinerlei Anzeichen für eine Rebellion gibt. Wie soll man in einer so radikal organisierten Gesellschaft Widerstand ausüben? Die Bewohner dieses Pekings können sich kaum vorstellen, dass ihr System nicht das Beste ist. Das erscheint absurd, aber auch in den Gesellschaften der Gegenwart haben viele Menschen die Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lebensumstände längst verloren – und rebellieren dennoch nicht gegen das jeweilige System, in dem sie wohnen. So wenig aussichtsreich Lao Daos Hoffnung auf einen Bildungsaufstieg seiner Tochter auch sind, sie sind gleichzeitig berührend und wahrscheinlich der einzig wirklich viel versprechende Weg. Hao Jingfang baut noch einen brutalen Aspekt in diesen einzigen Ausweg aus dem dritten Sektor: Man verlässt ihn immer nur allein, durch beruflichen Aufstieg. Die Familie, die diesen Aufstieg erst ermöglicht hat, bleibt an ihren Arbeitsplätzen im dritten Sektor zurück. Auch diese entfremdende Entwicklung durch sozialen Aufstieg wurde in den letzten Jahren viel diskutiert und ist einer der vielen kleinen Beobachtungen die „Peking falten“ trotz der etwas dünnen Handlung zu einer atmosphärisch starken, bewegenden Erzählung machen.
„Peking falten“ ist als Ebook bei Rohwolt Rotation erschienen. Die Erzählung hat 2016 den Hugo Award für die Beste Novelette erhalten und ist in der englischsprachigen Übersetzung im Uncanny-Magazin sowie auf der Homepage des Magazins erschienen.