Unbedingte Offenheit (Star Trek: Picard, Episode 1×04)
|https://www.youtube.com/watch?v=LXyEbOiaes8
(Orig. Titel: Absolute Candor)
Picard und seine Begleiter sind von der Erde aufgebrochen, um die Androidin Soji vor den Mördern des romulanischen Tal Shiars zu retten. Sie erhoffen sich von dem Wissenschaftler Bruce Maddox, der sich vermutlich auf Freecloud aufhält, mehr Informationen. Ihre erste Station ist jedoch Vashti. Hier wurden einst die ersten romulanischen Flüchtlinge unter Admiral Picards Führung evakuiert. Nach dem Scheitern der Rettungsflotte ist Vashti ein verarmter und zunehmend fremdenfeindlicher Planet geworden. Picard erhofft sich jedoch von dem örtlichen Orden der Quowat Milat Kriegernonnen Unterstützung für seine Mission. Dabei begegnet er auch dem jungen Elnor wieder, den er zuletzt in dessen Kinderjahren aufgrund der Mars-Katastrophe plötzlich verlassen musste. Auf dem von Romulanern erforschten Borg-Kubus versucht Soji derweil mehr darüber herauszufinden, was es mit der „Zerstörerin“ auf sich hat, die die durch eine Trauma romulanische Philosophin in ihr erkannt hat.
In der vierten Episode der Serie verlässt die Handlung „Star Trek: Picards“ endlich die Erde. Die bisherigen drei Folgen haben vor allem neue Charaktere wie Picards einstige Adjutantin Raffi, den angeheurten Captain Rios sowie die Androiden-Forscherin Dr. Juarti eingeführt. „Unbedingte Offenheit“ ist eine weitere Episode, die einem Charakter gewidmet ist. Elnor hat seine Familie im Zuge der Supernova verloren, die Romulus vernichtete. Übergangsweise organisierte Picard ihm einen Platz in dem Kloster der Kriegernonnen. Als die Föderation die Rettungsmission absagte, kehrte Picard, der für Elnor eine wichtige Vaterfigur war, nie wieder zurück. Verständlicherweise fühlt Elnor sich nun benutzt, da Picard lediglich nach Vashti zurückkehrt, weil er einen jungen Kämpfer braucht. Andererseits ist das Konzept eines schwerttragenden Kämpfers für das „Star Trek“-Universum ein wenig schräg. Natürlich gibt es hier Völker, die noch Klingenwaffen verwenden. Die Klingonen sind wohl das prominenteste Beispiel. Doch auch sie nutzen diese Waffe vor allem in rituellen Auseinandersetzungen und zum Training, in der Realität greifen sie ebenfalls gerne zu Strahlenwaffen. Weder das Konzept des Ordens noch Elnors steifer Charakter gehen daher wirklich auf.
Dennoch ist „Absolute Offenheit“ eine sehr überzeugende Folge. Das liegt an der Darstellung der romulanischen Siedlung sowie Picards Schattenseite. Auf der einen Seite ist es erschreckend, wie deprimierend sich die zunächst hoffnungsvolle Siedlung entwickelt hat. Nachdem die Rettungsmission scheiterte, blieb Vashti eine kleine, rückständige Welt. Die überlebenden Romulaner pflegen einen expliziten Rassissmus, verbieten nicht Romulanern zum Beispiel den Zutritt zu Restaurants. Noch weiß man wenig über die Gesellschaft der überlebenden Romulaner. Der immer wieder auftauchende Borg-Kubus steht zum Beispiel unter ihrer Kontrolle. Hier scheint es sich aber eher um eine lokal regierte Siedlung zu handeln, die nicht Teil eines größeren Staatengebildes ist. In Verbindung mit dem Kriegerinnenorden erfährt man dadurch mehr sowohl über die jetzige als auch die frühere romulanische Gesellschaft. Das ist sehr gelungen.
Picard kann den Rassismus nicht ertragen und hofft ihn zu durchbrechen, indem er sich unter die Leute mischt. Dabei muss er feststellen, dass er längst zu einer verhassten Person geworden ist. Er, der einst so viel für die Rettung der Romulaner erreichen wollte, wird von ihnen heute als Lügner angesehen, als jemand, der viel versprach, aber wenig liefert. Die Auseinandersetzung mit einem äußerst aufgebrachten, einstigen romulanischen Senator, startet stark und endet in einem etwas albernene Fechtkampf mit abruptem Ende. Obwohl die gewaltsame Auseinandersetzung etwas deplatziert ist, ist dieser Handlungsstrang interessant und spannend. „Absolute Offenheit“ zeigt tatsächlich so offen wie nie in dieser Serie Picards Schattenseiten auf. In der vorherigen Folge erfuhren wir, dass Picard seine einstige Adjutantin im Stich ließ. Hier erfahren wir, dass auch sein Ziehsohn sowie eine ganze Gemeinschaft an Romulanern sich von Picard im Stich gelassen fühlen. Picard selbst ficht das alles aber überrashend wenig an, im Gegenteil, er glaubt mit einem etwas ausgiebigen Entschuldigung alle auf seine Seite ziehen zu können oder gar für eine Zusammenarbeit gewinnen zu können. Das zeigt überzeugend, dass Picard seine Umwelt nicht mehr wirklich treffsicher einschätzen kann, was zu den vielen brenzligen Situationen dieser Episode führt.
Und Picard hat seine Arroganz in den Jahren seines Ruhestands nicht überwunden. Während er noch versucht, Elnor auf seine Seite zu ziehen, werden sein Raumschiff und der Rest seiner Besatzung im Orbit des Planeten angegriffen. Picard jedoch ist so überzeugt davon, dass er Elnor als Kämpfer (aber für welche Schwertkämpfe?) gewinnen muss, dass er seinen Begleitern ziemlich grob zu verstehen gibt, sie seien auf sich allein gestellt. Und selbst als Elnor (zunächst) absagt, gännt sich Picard erst einmal einen Restaurantbesuch bevor er (dann mit Elnor) zu seiner bedrängten Crew zurückkehrt. Diese Ambivalenz ist für Picard überraschend und macht den Charakter spannender als zu Beginn der Serie vermutet.
Der anschließende Kampf ist gelungen inszeniert. Obwohl ein Hologramm eine nicht zwingend notwendige Albernheit mit sich bringt, ist der überraschende Auftritt Seven of Nines sehr gelungen. Die Handlung im Borg-Kubus um die Androidin Soji und den Zhat Vash Mitarbeiter Narek tritt weiterhin auf der Stelle. Narek gelingt es, bei Soji langsam Zweifel über ihre Existenz zu sähen. So weist er sie z.B. darauf hin, dass es keine Nachweise dafür gibt, dass sie die schulische Laufbahn, an die sie sich erinnert, tatsächlich absolviert hat. Die Szenen auf dem Borg-Kubus sind wegen der gut getroffenen Figuren trotz der stagnierenden Handlung sowohl spannend als auch unterhaltsam.
„Absolute Offenheit“ führt mit Elnor ein fünftes Mitglied in Picards kleine Besatzung ein und unterhält mit einem ausgewogenen Mix aus Einblicken in die romulanische Gesellschaft, Picards Dialoge mit Elnor und anderen Romulanern sowie der hektischen Abschlussschlacht. Die Folge setzt damit das sehr gute und unterhaltsame Niveau der Vorgänger fort. Da aber noch nicht ganz klar ist, wofür Picard überhaupt einen schwertkämpfenden Begleiter braucht, fühlt sich „Absolute Offenheit“ trotz des hohen Unterhaltungsniveaus ein wenig wie der kleine Umweg an, der Picards Reise nach Vashti auf dem Weg zum vermeintlichen Aufenthalt Bruce Maddoxs auf Freecloud tatsächlich ist.