Herkunft (von Saša Stanišić)
|Im Klappentext verspricht Stanišićs Buch „Herkunft“ mindestens sechs verschiedene Facetten aufzugreifen. Tatsächlich ist es mindestens das. Stanišić erzählt in vielen kurzen, chronologisch wild durcheinander gewirbelten Kapiteln aus seinem Leben. Während er sich an die Flucht vor dem Bürgerkrieg in Bosnien, seiner Jugend in Heidelberg und seinen Begegnungen mit einer über Europa verzweigten Familie nach seinen ersten Erfolgen als Schrifststeller erinnert, beschreibt er parallel wie seine demente Großmutter ihre Erinnerungen immer mehr verliert. An den verschiedensten Orten, vom Ausländeramt bis hin zum Heimatdorf seiner Großmutter, wird er mit der Frage seiner Herkunft konfrontiert.
Und auf diese Frage gibt es keine leichte Antwort. Stanišićs Heimatstadt hat sich durch den Krieg verändert, ist ein Ort geworden, den selbst seine dort verwurzelten Eltern als Fremd empfinden. Die Fluchterfahrung hat seine Eltern entwurzelt, seine Familie über den Kontinent zerstreut. Diesen Prozess, sowie die (in der Regel) erfolgreichen Versuche, sich anderswo eine Heimat zu schaffen, schildert das Buch in Verbindung mit Kindheitserinnerungen. Das thematisiert die Ereignisse und Folgen des Bürgerkrieges eben so wie Ausgrenzung in Deutschland und den Schmerz einer Alzheimer Erkrankung für Betroffene und ihre Angehörigen. Trotz all dieser ernsten Themen ist das Buch unverstellt heiter, begegnet Alltag und Grausamkeiten mit wahnsinniger Ironie und nähert sich der Frage der Herkunft daher mit lockerer und leichter Manier.
Gleich eines der ersten Kapitel beschreibt die Anfertigung eines Lebenslaufes für die Ausländerbehörde. Ein Lebenslauf ist eine klassische Art, die eigene Herkunft zu dokumentieren. „Herkunft“ zeigt aber durch genau beobachte, subtile Situationen, wie wichtig die Frage der Herkunft in verschiedenen Kontexten ist. Während die Frage der Herkunft im bosnischen Bürgerkrieg über Leben und Tod entschied, sind deutsche Einwanderungsämter fast genau so vernarrt in die Frage der formalen Herkunft. Alles was nach der Geburt und neben der Abstammung geschieht, interessiert im Zweifel weniger. Die Absurdität dieser Gesellschaftsnorm in vielen Lebenssituationen wird im Laufe des Buches immer deutlicher und durch die Demenz der Großmutter noch unterstrichen. „Herkunft“ so lernt man da, hängt ja eigentlich von den eigenen Erinnerungen ab. Die können bereits ohne Demenz trügen, wandeln sich jedoch vor allem durch die Krankheit. Und so wird die Vergangenheit immer unspezifischer bis am Ende gar eine Drachenjagd als überzeugende Möglichkeit erscheint, den verstorbenen Gatten wiederzusehen. In dieser und vielen anderen Situationen arbeitet „Herkunft“ auch heraus, wie gemeinsame Herkunft nicht nur das Trennende, als dass es in unserer Welt häufig genutzt wird, sondern auch Verbindenes sein kann.
„Herkunft“ thematisiert dadurch am Ende viel mehr als die (vielen) im Klappentext erwähnten Facetten. Der autobiographische Roman fasziniert mit seinen pointierten Beobachtungen, unterhält mit der spitzen Ironie, bewegt durch den tragischen Hintergrund und beeindruckt durch die ständige Präsenz der Widersprüchlichkeit von Herkunft und unserer Behandlung derselben. Das ist spannend und berührend und vor allem kaum aus der Hand zu legen.