Attachment Disorder (von Tamanarive Due) & By His Bootstraps (von Ashok K. Banker)
|Die beiden Kurzgeschichten sind Teil der Anthologie „A People’s Future of the United States“, die 2019 im „One World“-Verlag erschienen und von Victor LaValle und John Joseph Adams herausgegeben wurde. Die Anthologie schickt sich an, in einer Mischung aus lichten und dunklen Themen Utopien und Dystopien miteinander zu verbinden und Charaktere, die zwar an ihrer jeweiligen Gegenwart verzweifeln, dabei jedoch nicht aufgeben, sondern für eine bessere Welt kämpfen, in den Mittelpunkt zu stellen.
„Attachment Disorder“ von Tamanarive Due nimmt den Leser in eine Zukunft mit, in der ein Virus stark unter der Menschheit gewütet hat. An einigen Patienten wurden brutale Experimente verübt, um an einen Impfstoff zu gelangen. Nayima lebt nun als eine der „Tägerinnen“ des Virus in einer extra für sie geschaffenen Kolonie im ländlichen Kalifornien. Mit Mitte 60 spürt sie, dass ihr Körper, aber auch ihre medizinischen Implantate langsam aufgeben. Allerdings muss sie weiterhin ihre Enkelin Lottie beschützen. Denn eine radikale Organisation hat es sich zum Ziel gemacht, die Welt von den Trägern des Virus zu „säubern“, um zu verhindern, dass das Virus mutiert. Als die Organisation die ersten Träger durch brutale Anschläge tötet, möchte Nayimas Ex-Partner Raul daher das Angebot der Regierung annehmen und in Sacramento in einem Heim nur für Träger einen Neustart wagen. Nayima flüchtet zunächst mit Lottie in die Richtung Rauls. Doch als sie auf dem Weg dorthin mit zwei Terroristen aneinandergeraten entschließen sich beide, ihr gefährliches aber freies Leben auf ihrer Farm fortzuführen.
Dues Beschreibung, wie brutal Menschen in der Zukunft auf die Träger längst besiegter Krankheiten reagieren werden, erscheint ausgesprochen realistisch. Die Überlebenden der (übrigens menschengemachten) Katastrophe legen den einstigen Patienten strenge Auflagen auf. Auch die Regierung kontrolliert alle Bewegungen der Infizierten. Obwohl alle wissenschaftlichen Studien darauf hinweisen, dass keine Gefahr mehr besteht, gibt es radikale Gruppen, die alle Träger töten bzw., in ihren Worten, die Welt von ihnen „säubern“ möchten. Die Regierung behauptet, auf der Seite der Vernunft zu stehen, bietet den Trägern einen sichereren Aufenthalt in Sacramento an. Hierfür schafft Due in der Form von Nayima eine starke Protagonistin. Nayima vertraut der Regierung nicht. Sie hat schließlich einst an ihr (notwendige, aber schmerzhafte) Studien durchgeführt. Auch erinnert sie sich an die Zeiten, in denen sie keineswegs zuvorkommend behandelt wurde. Also entscheidet sie sich, lieber ein Leben in Freiheit zu führen als ein Leben unter Aufsicht, das vielleicht sicherer ist, aber auch von der jeweiligen Regierung abhängt. Diese uramerikanische Einstellung ist hier sehr gut erfühlbar. Doch die Entscheidung wäre nur einfach, wenn Nayima sie nur für sich träfe. mit Lottie kommt ein Unsicherheitsfaktor in die Gleichung. Due erklärt sehr stark, warum Nayima trotz ihres Freiheitsdrangs zunächst in Richtung Rauls und Sacramento aufbricht. Nayima wurde einst von ihrer Mutter verlassen und obwohl sie in Lottie keine Tochter sieht, kann sie nicht nachvollziehen wie ein Mensch einen schutzbefohlenen Menschen verlassen könnte. Diese in durch einen fehlerhaften medizinischen Chip ausgelösten Halluzinationen Nayimas erzählten Rückblenden geben der Geschichte emotionale Tiefe. Diese Kombination aus realistischem, aber auch brutalem Szenario und der eindringlichen Geschichte Nayimas ist sehr gelungen. Leider wirkt das Ende zu abrubt: Lottie entscheidet sich, Nayima zu folgen. Dadurch zeigen beide Frauen ihren Freiheitswillen, angesichts ihrer vielen Gegner wirkt dies allerdings eher wie die Wahl eines freien Todes. Es ist unklar, warum Lottie, die den Virus selbst nicht trägt und in Sacramento nichts zu befürchten hätte, diesen Weg wählen sollte. Wahrscheinlich nur, weil sie genau so an Nayima hängt wie diese an Lotties Wohlergehen. Die negativen Konsequenzen dieser Bindung werden jedoch komplett ignoriert und hinterlassen einen unbefriedigenden Eindruck in der ansonsten bildstarken, spannenden und bewegenden Kurzgeschichte.
„By His Bootstrap“ von Ashok K. Banker ist anders als die meisten anderen Kurzgeschichten der Anthologie eine zwar beißende, aber ausgesprochen lockere Satire. Donald Trump wacht eines morgens im Weißen Haus auf und alles ist anders: Überall sind Fremde, Ureinwohner Amerikas und andere Menschen, die er am liebsten außer Landes hätte. Es stellt sich heraus, dass Trump an einer Waffe gearbeitet hat, die Amerika endlich wieder großartig machen sollte: die genetische Zeitbombe (genetic time bomb) sollte über die Gene die Familiengeschichte ihrer Opfer so beeinflussen, dass sie nie in den USA ankommen. Doch das Projekt ging gründlich schief: Nach erfolgreichen Tests wurde das MIttel in das Grundwasser der Erde eingespeist und sorgte dafür, dass die USA ein von Ureinwohnern dominiertes, aber außerdem ausgesprochen vielfältiges und einwanderungsfreundliches Land wurde. Trumps Urgedanke war, endlich das Amerika zu schaffen, das sich die Gründungsväter gewünscht hatten. Und das war nun einmal ein vielfältiges Amerika, weswegen die Waffe – aus Trumps Sicht – wahnsinnig schief gelaufen ist. Warum hat sich Trump nicht mit seinem Umfeld verwandelt? Weil der Präsident ausschließlich Diet Coke zu sich nimmt. Also flößt ihm sein mittlerweile zur Frau gewordener Chefwissenschaftler Wasser ein und Trump verwandelt sich in einen transsexuellen, friedlichen Menschen, der die neue Welt, in der Waffen abgeschafft und Konflikte eine Sache der Vergangenheit sind, euphorisch begrüßt.
Bankers Satire gibt sich keine Mühe, ihre Parallelen zu der Trump-Präsidentschaft zu verbergen. Zwar fällt Trumps Name nie, doch der Präsident, der nur Fox News guckt, andere als „snowflakes“ bezeichnet, selbst aber ständig explodiert und zudem ausschließlich McDonald’s Burger und Diet Coke in seinem Schlafzimmer trinkt und dabei neue Einwanderungsgesetze plant, ist leicht zu identifizieren. Auch der Rest der Satire wirkt an einigen Stellen ausgesprochen plump. Hier wird das genaue Gegenteil, die große Angst der Trump-Anhänger skizziert: Alle Menschen werden zu transsexuellen, vielfältigen und dennoch friedlichen Menschen, die nicht einmal mehr Waffen kennen. Der Grund dafür, die von Trump heimlich entwickelte genetische Zeitbombe ist immerhin ein absurdes Element in der Geschichte und Trumps Immunität zu der Veränderung wegen seines Softdrinkkonsums der gelungenste Witz der Kurzgeschichte. Alles in allem ist „By His Bootstrap“ politische Botschaft aber zu plump, um wirklich zu überzeugen. Zumindest bis einem am Ende der Lektüre der Gedanke kommt, dass diese plumpe und absurde Vision eines multikulturellen Amerikas genau die Zukunftsversion ist, vor der Fox News tagein, tagaus warnt. Dadurch wird die immerhin kurzweilige Satire „By His Bootstrap“ zwar nicht besser. Sie zeigt aber auf, wie der tendenziöse konservative Journalismus in den USA auf der einen Seite positive Ziele (wie Vielfalt und Frieden) als das Ende der Zivilisation darstellt und auf der anderen Seite ein Bedrohungsszenario zeichnet, das weder realistisch, noch wirklich grausam ist.