Church of Birds (von Micah Dean Hicks)
|„Church of Birds“ ist eine Fortsetzung des grimmschen Märchens „Die sechs Schwäne„. In diesem Märchen werden sechs Söhne eines Königs von einer Hexe in Schwäne verwandelt. Nur wenn ihre Schwester sechs Jahre lang absolute Stille wahrt und zudem sechs Hemden näht, werden sie von ihrem Fluch erlöst. Unter vielen Strapazen gelingt es der Schwester sechs Jahre Stille zu wahren, allerdings schaft sie es beim letzten Hemd im Laufe der Frist nicht, den zweiten Ärmel fertig zu nähen. Der jüngste Sohn behält daher einen seiner Schwanenflügel. In dieser Kurzgeschichte erfährt man – in eine modernere Zeit übertragen – was aus dem Jungen, hier Ben genannt, geworden hat. Benhat Schwierigkeiten, mit anderen Menschen zu interagieren, findet keinen sozialen Anschluss. Während seine Schwester ihn unterstützt, sind seine Brüder gar darauf aus, ihn zu töten. Sie sehen in ihm eine Schande für die Familie. Da er der jüngste Sohn war, hat Benvor seiner Rückverwandlung mehr Jahre als Schwann denn als Mensch verbracht. Seine Sehnsucht wieder ein Vogel zu sein ist groß, in seine Wohnung hält er sich viele Vögel. Eines Tages begegnet Ben durch Zufall einen Zauberer und bittet diesen ihn wieder „Ganz“ zu machen. Am nächsten Tag wacht Ben ohne seinen Flügel auf, dabei hatte er unter „Ganz“ verstanden, wieder zum Schwan zu werden.
„Church of Birds“ vermittelt eine märchenhafte Stimmung. Vieles bleibt außerhalb von Bens Gefühlen im vagen. Die Hintergründe werden knapp skizziert, lediglich die Leiden und Strapazen der Schwester werden ausführlich geschildert. Um Ben herum wimmelt es von toten Vögeln. Er nimmt ständig neue Vögel bei sich auf, shceint aber nicht besonders gut darin zu sein, für sie zu sorgen. Diese morbide Stimmung innerhalb der Wohnung wird zu Beginn geschildert und setzt die Stimmung für die Kurzgeschichte.
Denn auch außerhalb seiner Wohnung findet Ben wenig Freude. Die Gesellschaft reagiert ausgesprochen abweisend auf ihn. Da er den Großteil seiner Kindheit als Vogel verbracht hat, muss er nach seiner Rückverwandlung viel aufholen. Doch in der Schule wird er ausgegrenzt und auch sonst hat er Schwierigkeiten, sich menschlichem Sozialverhalten anzupassen. Seine Brüder sehen das ähnlich. Sie empfinden es als Schande, dass ein Mitglied ihrer Familie noch Überreste eines Vogels am Körper trägt. Sie schämen sich mittlerweile dafür, jemals Vögel gewesen zu sein. Bei Ben ist das ganz anders. Je schwerer sein Leben wird, desto nostalgischer blickt er auf seine Zeit als Vogel zurück.
Und so trägt die Kurzgeschichte zwei Gedanken mit sich herum. Ben hat die prägenden Jahre seiner Kindheit als Vogel verbracht. Daher scheint es logisch, dass diese Zeit nicht nur schlechte Erfahrungen mit sich gebracht hat. Allerdings zeigt sich hier auch, dass alternative Lebensentwürfe eine große Anziehungskraft entfalten können. Bens Brüder sehen im Menschsein genau so wie die meisten seiner Mitmenschen den einzigen würdevollen Lebensentwurf. Ben kann der menschlichen Gesellschaft nicht besonders viel abgewinnen, empfindet sie zurecht als ausgrenzend und hart. Sein Wunsch wird durch die Schilderungen seiner Erfahrungen verständlich. Die Kurzgeschichte selbst zieht jedoch ihr Spannungspotential und ihren märchenhaften Charakter in erster Linie daraus, dass Ben genau dieser Wunsch verwehrt bleibt.
Die Kurzgeschichte „Church of Birds“ von Micah Dean Hicks ist 2017 in dem Magazin „Kenyon Review“ erschienen. Sie ist außerdem ein Beitrag in der Anthologie „The Best American Science Fiction and Fantasy 2018“, herausgegeben von N.K. Jemisin und John Joseph Adam.