Head, Scales, Tongue, Tail (von Leigh Bardugo)
Gracie wächst in dem kleinen Ort Little Spindle auf. Die einzige Attraktion des Ortes ist ein See, in dem einige Menschen ein Ungeheuer entdeckt haben. Auch Gracie sieht eines Tages solch ein Ungetüm. Die mysteriöse Annalee Saperstein rät ihr mit dem belesenen Jungen Eli das Monster zu suchen. Eli ist immer nur über den Sommer in Little Spindle. Über die Jahre vergessen die beiden Kinder das Monster, verbringen aber dennoch jeden Sommer zusammen. Gracie merkt, dass sie sich auch romantisch zu Eli hingezogen fühlt. Doch Eli scheint unerklärlich distanziert. Im Sommer ihres letzten Schlujahres kommen die beiden endlich zusammen. Gracie ist jedoch verstört, als Eli kein Interesse daran zeigt, dass sie in seiner Heimatstadt New York studieren möchte. Dennoch trifft sie ihn auf Annalees Rat ein letztes Mal: Es stellt sich heraus, dass Eli besagtes Seelebewesen ist und nur drei (Sommer)Monate im Jahr an Land wandeln darf. Gracie muss sich entscheiden, ob sie sich Elis Einschränkungen unterwirft, um mit ihm zusammen zu sein oder weiterhin unter Menschen leben möchten.
Die Kurzgeschichte startet bereits stark mit der Suche nach einem Seemonster. Die kindliche Neugier Gracies und Elis ist sehr gut dargestellt und überträgt sich umgehend auf den Leser. Darauf baut Bardugo eine angenehm subtile Romanze auf, die der Leser aus der Sicht Gracies verfolgen kann. Jedes Jahr verwandelt sich Gracies Blick auf Eli. Dabei überzeugen vor allem kleine Momente, wie Gracies Eifersucht auf ihre Freundinnen, wenn diese mit Eli sprechen, die Verarbeitung von Trauer am Ende eines jeden Sommers sowie das hilflose Rätseln darüber, was Eli den Rest des Jahres wohl in New York macht. Diese kindlichen und später jugendlichen Gefühle sind sehr gut getroffen. In Verbindung mit dem Leben in der Dorfgemeinschaft erzeugt dies sowohl Atmosphäre als auch eindringliche Gefühle.
Das ist so überzeugend, dass die Kurzgeschichte beinahe ohne phantastische Elemente auskommen könnte. Am Ende ist Eli nämlich kein Herzensbrecher auf der Suche nach einer Sommerbeziehung, sondern ein Seebwohner. Gracie entscheidet sich dafür, mit ihm zu ziehen und so leben sie gemeinsam glücklich im See und in den Weltmeeren und verbringen drei Sommermonate mit Gracies Familie. Dieses Wassermotiv schließt einen schönen Bogen vom Beginn bis zum Ende der Kurzgeschichte. Das Ende wirkt etwas zu aufgesetzt glücklich und entspringt vermutlich der Natur des Formats: „“Head, Scales, Tongue, Tail“ war ursprünglich ein Beitrag zu einer Anthologie von Sommerliebesgeschichten.
Hinter der Entscheidung, im See zu leben, kann natürlich mehr stehen als die große Liebe zu Eli. Gracie macht sich auch neben Eli Sorgen. Sie sorgt sich um ihre Zukunft im ländlichen Raum um Little Springs und sie ist unentschlossen, was sie in ihrem Leben eigentlich arbeiten möchte. Der See und das Wasser sind hier ein starker Kontrast. Es gibt hier für Gracie zwar nur Eli (und scheinbar das Bewusstsein des Sees). Doch präsentiert sich hier ein Idyll, das eine sorgenfreie, fröhliche Zukunft verspricht. Und so lässt die Kurzgeschichte den Leser am Ende wundern, warum diese Weltflucht in eine an Kontakten reduzierte Lebensumgebung (die jedoch endlose Reisen zulässt) in dieser Kurzgeschichte nicht nur attraktiv präsentiert wird, sondern auch attraktiv erscheint.
Die Kurzgeschichte „Head, Scales, Tongue, Tail“ von Leigh Bardugo ist 2016 in der Anthologie „Summer Days and Summer Nights“, herausgegeben von Stephanie Perkins, erschienen. Sie ist außerdem ein Beitrag in der Anthologie „The Best American Science Fiction and Fantasy 2017“, herausgegeben von Charles Yu und John Joseph Adam.