Headshot (von Julian Mortimer Smith)
|„Headshot“ ist ein öffentliches Interview, das in Form einer Twitter-Unterhaltung ohne Wordbegrenzung wiedergegeben wird. Der CNN-Reporter JMitcher unterhält sich mit CplPeters (Corporal Peters). Peters ist jüngst ein überraschender Erfolg gelungen. Er ist Teil der Streitkräfte, die mittlerweile direktdemokratisch kontrolliert werden. Das bedeutet, er streamt alle seine Aktionen live über das Internet in die Vereinigten Staaten. Er darf seine Objekte erst dann ausschalten, wenn die Mehrheit seiner Zuschauer es ihm erlaubt. In diesem Fall gerät einer der meistgesuchten Terroristen in Pakistan vor sein Scharfschützengewehr. Doch er hat nicht das notwendige Quorum um einen Schussbefehl zu erwirken. Also ruft er seine Unterstützer auf, amerikanische Bürger in der Mitte der Nacht dazu zu bewegen, ihm das Schießen zu erlauben. Als der demokratische Befehl endlich eintrifft, ist es zu spät, das Ziel ist bereits abgefahren. CplPeters versucht es dennoch und trifft seinen Gegner. Er wird dadurch zu einem direktdemokratischen Helden, sein Feed hat nun vermutlich immer die Aufmersamkeit, um die von ihm als notwendig angesehenen Schussbefehle in kürzester Zeit zu erlangen.
Das Verhältnis zwischen Demokratie und Militär ist niemals einfach. Bereits bei demokratischen Entscheidungen besteht immer ein Spannungsfeld zwischen dem, was das „Volk“ tatsächlich direkt entscheidet und die Bereich, wo lediglich Grundlinien fest gelegt werden. Aus dieser Perspektive denkt „Headshot“ zunächst einmal die Demokratie weiter: Hier entscheiden Bürger zu jeder Zeit jedes Detail eines Einsatzes. Sie haben damit die Kontrolle darüber, wie der Kern staatlicher Souveränität, das Gewaltmonopol, sowohl im Inland wie auch im Ausland eingesetzt wird. Das ist doch eigentlich eine emanzipierende Entwicklung?
In „Headshot“ ist dies jedoch die Kulisse für eine beißende Satire. Das liegt nicht nur daran, dass die Rahmenbedingungen (z.B. die Höhe des ständig diskutierten Quorums) aufgrund der Platzbeschränkung einer Kurzgeschichte unklar bleiben. Weder das Leben des sich in Lebensgefahr befindlichen Soldaten noch das Leben des Ziels stehen wirklich im Mittelpunkt der Diskussion. Stattdessen geht es in erster Linie um (mediale) Aufmerksamkeit: Gelingt es dem Soldaten rasch genug über mediale Kanäle ausreichend Unterstützung für seinen Plan zusammenzutrommeln? In der Retrospektive des hier präsentierten Interviews wirkt dies ruhig und rational, tatsächlich ist das aber vollkommen willkürlich. Der demokratische Fortschritt bereitet hier lediglich einer direktdemokratischen Diktatur der gerade wachsamen und aktiven Internetbenutzer den Weg.
Wenn Erfolg heute auch davon abhängt, wie viele Menschen man auf verschiedenen Kanälen als „Influencer“ erreicht, so ist „Headshot“ eine Kritik dieser Entwicklung. Die Kurzgeschichte berührt die Möglichkeiten sozialer Medien, fokussiert sich aber in erster Linie auf eine pervertierte Form von Online-Abstimmungen. Die Interviewform, die die Ereignisse der Mission ex-post diskutiert kreiert dabei sowohl Dynamik als auch schaurige Gefühle bei der ruhigen Darstellung einer völlig willkürlichen staatlichen Entscheidung zu töten. Sie wirft damit aber auch die Frage auf, wie sich die heutigen Entscheidungen, die in den auf Großereignisse konzentrierten Medien häufig nicht diskutiert werden, davon unterscheiden.
Die Kurzgeschichte „Ambiguity Machines: An Examination“ ist 2015 in dem Online-Magazin „Terraform“ erschienen. Sie ist außerdem ein Beitrag in der Anthologie „The Best American Science Fiction and Fantasy 2016“, herausgegeben von Karen Joy Fowler und John Joseph Adam.