Der lange Sommer der Theorie – Geschichte einer Revolte 1960-1990 (von Philipp Felsch)
|Ist Theorie eine reine akademische Beschäftigung? In den 60er-Jahren und den Jahrzehnten danach war es das nicht: Die linke übte sich in „Theoriearbeit“, theoretische Bücher erlebten hohe Auflagen und der Mythos der Suhrkamp-Kultur entstand. Philipp Felsch zeichnet in „Der lange Sommer der Theorie“ diese Entwicklung anhand des Merve-Verlages nach. Beginnend von Adornos ungewöhnlich hoher Popularität in weiten Teilen der bundesdeutschen Bevölkerung über die Popularisierung französischer Theoretiker aufgrund des Merve-Verlags bis hin zu dem allmählichen Abschwächen der Bewegung versucht Felsch, ein Panorama zu zeichnen, dass die Theoriebegeisterung der damaligen Zeit für den Leser erfahrbar macht.
Und das gelingt ihm: Die Begeisterung über theoretische Diskussion, das Gefühl der Beteiligten, sich mit etwas wirklich wichtigem auseinanderzusetzen, kann Felsch sehr gut vermitteln. Er führt in seinem Buch keine Theoriediskussionen, legt keine Theorie aus, sondern bietet eine Rezeptionsgeschichte, die sich so nah wie möglich an dem Theorie produzierenden bzw. vermarktenden Milieu wie möglich orientiert. Viele Passagen sind aus der (möglichen) Sicht des Merve Verlagsgründers Gente verfasst. Das gibt dem Buch einen sehr unmittelbaren Eindruck. In Verbindung mit einem gut lesbaren Schreibstil ist das Buch streckenweise richtig unterhaltsam und bietet interessante Einblicke in das Milieu um den Merve-Verlag.
Besonders stark ist der Start des Buches: Die Abschnitte über Adorno sowie das Aufkommen der Theoriepopularität sind tatsächlich so etwas wie eine Rezeptionsgeschichte der Theorie in Deutschland. Zwar spielen auch Gentes Erlebnisse während der 68er Revolte und seines Studiums eine Rolle, doch immer werden hier auch andere Quellen wie z.B. Briefe an Adorno bemüht. Sowohl das Kapitel über Adorno als auch das Kapitel über den Beginn der Suhrkamp-Kultur geben einen guten Eindruck der Lage theoretischer Literatur in der Bundesrepublik.
Ab 1970 konzentriert sich Felsch dann fast ausschließlich auf die Arbeitsweise des Merve-Verlages, der unterschiedliche Phasen von der Ekstase über staubtrockener Theorie bis hin zum Spielen mit verschiedenen Kommunikationsformen durchmacht. Dies bestimmt den Großteil des Buches und verschiebt den Charakter in Richtung einer Verlagsgeschichte. Das ist schade, denn die ersten beiden Kapitel zeigen, wie interessant auch eine allgemeinere Rezeptionsgeschichte der Theorie sein könnte. So wünscht man sich z.B. mehr Informationen wie Theorie außerhalb des doch etwas engen Merve-Milieus rezipiert wurde. Beispielsweise ist es äußerst interessant, über die Kommunikation zwischen den Merve-Gründern und Foucault zu lesen; interessanter wäre es in diesem Buch jedoch, mehr über die Foucault-Rezeption außerhalb des Merve-Verlages zu erfahren. Auf diese Weise entsteht dann doch kein Panorama einer 30-jährigen Revolte, sondern ab den 70ern ein Überblick über einen durchaus faszinierenden Verlag.
Aber auch als Verlagsgeschichte fehlen einige Aspekte: Man erfährt viel über die Verleger, die sich selbst in erster Linie als Leser verstehen. Das ist sehr interessant und vor allem die sich über die Zeit wandelnde Einstellung zur Theorie und zu den Theoretikern ist geradezu spannend. Es fehlt aber völlig der Blick auf die Leser der Verlagsprodukte – was vermutlich aufgrund fehlender Quellen nur schwierig zu gestalten wäre. Bei dem starken Fokus auf die Verleger hätte es aber noch mehr Informationen zu der Verwandlung des Verlagkollektivs in eine „normalere“ Struktur bedurft. Insgesamt hätten angesichts dieses persönlichen Fokus mehr Bezüge auf das Verhältnis der Protagonisten untereinander, so z.B. auch zu dem Schicksal von Gentes erster Frau, aus deren früher Verlagsgeschichte immer wieder zitiert wird, gut in das Buch gepasst. Außerdem bricht die Verlagsgeschichte 1990 ab, in einem knappen Epilog wird auf das Ende der Theorie verwiesen. Dies ist ein starker Bruch und unverständlich, schließlich existiert der Verlag noch immer und auch Gente blieb bis 2002 dort aktiv (auch wenn der Fokus seiner Arbeit laut Felsch nicht mehr auf der Theorie lag).
„Der lange Sommer der Theorie“ ist damit weder eine umfassende Darstellung der Theorierezeption zwischen 1960 und 1990 noch eine reine Verlagsgeschichte. Es ist ein unterhaltsam geschriebenes, atmosphärisch dichtes Panorama einer Gruppe von Menschen, für die Theoriearbeit über Jahrzehnte ein zentraler Lebensbestandteil ist. Das ist aufschlussreich und vor allem an den Stellen, an denen die Theoretiker für die Theoriearbeiter über das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis bzw. Theoriearbeit als Praxis reflektieren beinahe ironisch und dennoch nachdenklich. Als Überblickswerk über die „Geschichte einer Revolte“ fehlen jedoch Perspektiven außerhalb des Merve-Kollektivs.