Gedankensplitter 26/2016
|Brexit und britische Erwartungshaltungen: Die Bewohner des Vereinigten Königreiches haben sich entschieden, die europäische Union zu verlassen. Die Konsequenzen sind noch nicht absehbar: Was wird das ökonomisch für die Insel und den Kontinent bedeuten? Wird Schottland nun erneut die Unabhängigkeit anstreben? Wie wirkt sich das Ergebnis auf das politische Kräfteverhältnis in Großbritannien aber auch innerhalb der Europäischen Union aus? Auf viele dieser Fragen gibt es bisher keine klaren Antworten. Eines ist aber deutlich geworden: Es ist den EU-Befürwortern trotz offensichtlichster Lügen in Bezug auf Immigration und Finanzen auf der Exit-Seite nicht gelungen, dass europäische Projekt überzeugend zu verkaufen. Das mag an internen Probleme wie z.B. der mangelhaften Zusammenarbeit zwischen der Labour- und der konservativen Partei liegen. Doch keiner Seite ist es gelungen, der Mehrheit der Briten das Integrationsprojekt schmackhaft zu gestalten. Noch schlimmer: Es ist ebenfalls nicht gelungen, der tendenziell xenophoben Stimmung gegen Immigration entgegenzutreten und dieses Phänomen von der europäischen Integration zu lösen. Was vor wenigen Wochen in Österreich noch mit einem knappen Sieg für das Establishment endete, wird hier zu einem Triumph der Populisten. Sowohl Konservative als auch Sozialdemokraten lähmen sich im Anschluss an das Ergebnis mit internen Verwerfungen selbst.
Dabei bedeutet das Referendum auch für britische Politiker einen Auftrag, das Vertrauen der Bevölkerung wieder zurückgewinnen. Sie haben nun keinen Sündenbock auf der europäischen Ebene mehr, sondern müssen ihre Politik selbst rechtfertigen. Obwohl die sozialen Versprechen der Exit-Befürworter nur schwer zu realisieren sind, verbindet sich mit ihnen nun eine große Erwartungshaltung. Die britische Politik tritt in eine spannende Phase ein, sie kann und muss zeigen, dass sie Veränderungen gestalten kann. Die internen Streitigkeiten deuten nicht darauf hin, dass die beiden großen Parteien dazu derzeit in der Lage sind.
In Europa zurückgeblieben: Das Integrationsprojekt ist für die restlichen 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union hingegen weiterhin Realität. Sie werden sich in den kommenden Jahren mit einem Austrittsvertrag für das Vereinigte Königreich auseinandersetzen müssen. Gleichzeitig findet man jedoch in jedem Mitgliedsland immer stärkere Stimmen, die dem britischen Beispiel folgen möchten. Die Herausforderung für die Politiker in diesen Ländern ist daher noch größer: Sie müssen erkennen, dass die derzeitige Funktionsweise der Europäischen Union immer mehr Unmut erzeugt und Reformen bitter notwendig sind. In Deutschland schlägt die SPD ein zehn Punkte Programm für eine „Neugründung“ der EU vor. Aus der CDU hört man von Bundeskanzlerin Merkel, dass sie traurig über das Ergebnis des Referendums sei.
Traurigkeit reicht nicht aus, die Bundeskanzlerin müsste an dieser Stelle auch erklären, warum die Europäische Union weiterhin Vorteile für Deutschland bietet. Sie darf das Feld an dieser Stelle nicht den Populisten überlassen. Auch eine Neugründung der EU wirkt an dieser Stelle wiederum illusorisch: Wie möchte man ohne die Unterstützung der Bevölkerung eine demokratische Union in einem von unterschiedlichen Wirtschaftsstärken geprägten System gründen? Und vor allem, wie reagiert solch eine Neugründung auf die existierenden Probleme der Union?
Der Warnschuss könnte nicht größer sein und doch finden sich in den ersten Tagen nach dem Referendum keine prominenten Politiker, die entweder das System in Hinblick auf die durch die Union garantierten sozialen Mindeststandards wenigstens verteidigen oder einen realistischen Wandel zu einer das Primat der Wirtschaft brechenden Union skizziren. Stattdessen herrscht konservatives Schweigen und sozialdemokratisches Wunschdenken: Keine verheißungsvolle Aussicht.
Das Primat des Zentrums: Der ehemalige britische Premierminister Blair hat auf die Ereignisse mit einem Artikel in der New York Times reagiert. Das Fazit der langen Analyse besagt, dass „das Zentrum“ wieder Lösungen auf herrschende Probleme finden und diese überzeugend umsetzen muss. Keine Frage: Die Bereitschaft neben hysterischen Themen auch wieder Sachpolitik zu betreiben, zu durchdenken und umzusetzen ist häufig nicht erkennbar, bzw. scheitert an den Kommunikationssystemen. Allerdings fehlt dieser Analyse ein großes Problem: Das politische Zentrum, so es denn existiert, darf niemals als Block auftreten. Natürlich proklamieren Parteien gerne die „neue Mitte“ oder schlicht „die Mitte“ für sich selbst. In der Demokratie bedarf es jedoch Alternativen. Eine Regierungswechsel muss auch einen erkennbar anderen Politikstil mit sich bringen. Politische Parteien müssen sich darauf konzentrieren, unterschiedliche Alternativen zu entwickeln und anzubieten und diese anschließend im demokratischen Prozess so gut es geht umzusetzen. Nur wenn man damit nicht ständig die Konzepte des Gegners kopiert (z.B. den Mindestlohn in eine Lohnuntergrenze übernimmt) oder eine Diskussion sofort abwürgt (z.B. durch hysterische Reaktionen auf Vorschläge von rechts (nach Hilfspolizisten) oder links (nach der Suche nach rot-rot-grünen Gemeinsamkeiten)), kann populistischen Bewegungen durch überzeugende demokratische Auseinandersetzungen die Basis entzogen werden.
Demokratische Spielerei: Die US-Demokraten besetzen gerade das Repräsentantenhaus, um eine Abstimmung über eine Waffenrechtsverschärfung zu erzwingen. Die dort regierenden Republikaner verdammen dies als „politischen Stunt“. So sympathisch die demokratische Position aus deutschen Augen erscheinen mag, so gefährlich ist dieser Stunt. Solche spontanen Aktionen verschärfen die bereits existierenden Spannungen zwischen den amerikanischen Parteien unnötig. Das System bewegt sich immer mehr in eine Richtung, in der demokratisch getroffene Entscheidungen schlicht nicht mehr respektiert werden. In der Systemlogik müssten die Demokraten in der Bevölkerung für eine überwältigende Mehrheit für ihre Vorschläge werben, die sich auch in Wahlergebnissen ausdrückt und ihnen somit das Haus zurückerobert. Mit ihrer derzeitigen Strategie kann man bereits absehen, dass eine irgendwann in der Zukunft von einer demokratischen Mehrheit getroffenen Entscheidung mit ähnlichem Widerstand zu rechnen hat. Für die Funktionsweise der amerikanischen Demokratie ist das nicht dienlich.