Das doppelte Gesicht Europas (von Hauke Brunkhorst)
|Hauke Brunkhorst präsentiert mit seinem kleinen Suhrkamp-Bändchen eine Wesensbeschreibung der Europäischen Union. Zentral für seine Analyse ist die Gegenüberstellung, eines kantianischen „mindsets“ mit dem eines „managerial mindsets“. Während ersteres einen emanzipatorischen und egalitären Charakter hat, legt letzteres einen elitären, neo-liberalen Prägung an den Tag. Daher rührt der (auf dem Titel nicht erscheinende) Untertitel „zwischen Kapitalismus und Demokratie“.
Brunkhorst argumentiert, dass das Einigungsprojekt, das heute die EU ist, seine egalitären Anfänge kurz nach dem zweiten Weltkrieg eben so verdrängt hat wie seine koloniale, nationalistische und faschistische Vergangenheit. Doch Verdrängen und Silencing klappt nie ganz: Ideen setzen sich in Brunkhorstanalyse immer fort und auch das managerial mindset kann egalitäre Normen nicht gänzlich ausblenden. Auf dieser Grundlage legt Brunkhorst in dem Hauptkapitel des Essays unter dem Titel „Verfassungsevolutionen“ eine Analyse derselben vor. Spitz zeichnet er nach wie die Idee einer Wirtschaftsverfassung zunächst von rechten Kräften gekapert wurde und anschließend zwar neoliberale Ideen immer weiter voranbrachte, dabei aber doch immer Zugeständnisse an das kantianische mindset machen musste. Um dies zu illustrieren verwendet Brunkhorst als Metapher eine Auseinandersetzung zwischen Doktor Jekyl und Mister Hyde.
Diese Auseinandersetzung ist sehr erhellend, da sie das Einigungsprojekt weder gänzlich verdammt noch übermäßig positiv sieht. Stattdessen betont die Analyse die Dialektik der EU und weist darauf hin, dass durch das für einen europäischen Wirtschaftsraum notwendige Primat einer europäischen Rechtsordnung immer auch Bürger- und Individualrechte mit entstanden.
Das Problem erkennt Brunkhorst vielmehr darin, dass dies ausschließlich durch eine Entwicklung im Rechtssystem selbst geschah bzw. geschieht. Hauptsächlich handelt es sich um eine Auseinandersetzung zwischen dem Europäischen Gerichtshof und nationalen Gerichten unter Beachtung der EU-Verträge. Einen politischen, einen demokratischen Einfluss auf diesen Prozess gab es kaum. Und dadurch ist das managerial mindset, dessen Geist die Verträge hauptsächlich atmen, immer einen Schritt voraus.
Letztlich kommt die Analyse daher zu einem Punkt, an den bereits viele Autoren vor Brunkhorst gelangt sind: Ohne eine europäische Öffentlichkeit, ohne europäische Interessensorganisationen der Bürger und eine tatsächlich Parlamentarisierung und Demokratisierung der EU wird sich das kantianische mindset und damit die Demokratie nicht durchsetzen.
Zum dialektischen Prozess gehört dazu, dass die Ansatzpunkte für solch eine demokratische Entwicklung in den EU-Institutionen bereits gelegt sind. Es müsste nun darum gehen, diesen mit geballter öffentlicher Kraft Leben einzuhauchen. Während Brunkhorst die Stärke wirtschaftlicher und nationalistischer Akteure ganz richtig analysiert, bleiben seine Lösungsvorschläge am Ende erstaunlich simpel und naiv. In kurzen Abschnitten wird über einen „transnationalen Klassenkampf“ der Gewerkschaften und über einen möglichen Aufstieg eines immer gebildeteren „akademischen Prekariats“ fabuliert. Erstaunlicherweise setzen all diese Lösungsansätze am Ende auf das Prinzip Hoffnung, obwohl Brunkhorst in seiner Analyse selbst darauf hinweist, dass dies bei weitem nicht ausreicht.
Denn derzeit gibt es weder Anzeichen noch Anreize dafür, dass sich die europäischen Gewerkschaften oder gar die abgehängte Jugend zusammenschließt, um den „ökonomischen Belagerungszustand“ der EU zu beenden. Und selbst wenn dies geschehen sollte, wäre nicht klar (und Brunkhorst schweigt dazu), ob diese Gruppen überhaupt dieselben Interessen hätten, um eine tatsächliche Veränderung der EU und ihrer Institutionen (letzteres ist Brunkhorst ebenfalls zwei Seiten in seinem Schluss wert) herbeizuführen. Wahrscheinlicher wäre, dass diese Gruppe, da sie viel heterogenere Interessen als wirtschaftliche Akteure hat, bereits kurz nach ihrer Gründung in Streit zerfallen würde. So wäre es für Gewerkschaften angesichts unterschiedlicher nationaler Voraussetzungen zum Beispiel schwierig, sich auf gleiche oder ähnliche Tarifstrukturen zu eignen.
Hier rächt sich, dass Brunkhorsts Analyse weitestgehend akteursfrei argumentiert. Zwei dialektische mindsets sind hier am Werk, die über den Weg der Rechtsordnung ihre Ziele vorantreiben. Brunkhorst versteht es sehr gut, dem Leser mithilfe heuristischer Metaphern wie dem Jeckyl/Hyde Gegensatz diese Dialektik näher zu bringen. Auch er ist aber nicht in der Lage, die realen Akteure zu benennen, die diesen Prozess vorantreiben bzw. gegen ihn kämpfen. Mal werden Staatschef als Verweigerer genannt, am Ende sind es aber namenslose Richter, die in seiner Analyse agieren. Obwohl Brunkhorst auf das Fehlen politscher Macht auf europäischer Ebene als Krisenursache hinweist, ist nicht klar, wie diese Macht aussehen soll und welche Macht auf nationaler Ebene dem eigentlich im Weg steht.
„Das doppelte Gesicht Europas“ ist eine äußerst lesenswerte Analyse des dialektischen Charakters der europäischen Rechtsordnung, die dem Kapital den Weg ebnete und dabei gleichzeitig auch immer Bürgerrechte stärkte (und stärken musste). Dabei unterstreicht der Essay die Bedeutung der Judikative im Einigungsprozess und betont ihre Stärke gegenüber der Exekutive. Die daraus folgende Ableitung, dass ein Europa der Bürger eine EU mit starker, demokratischer legislative und diese nur nur mit den Bürgern, also mit europäischen Bewegungen funktioniert, besticht. Das europäische Parlament funktioniert auch deswegen nicht, weil die notwendigen bürgerschaftlichen Kontrollen über Medien und Bewegungen fehlen und daher (fast) ausschließlich wirtschaftliche Kontrollen über Verbände und Großunternehmen auftreten sowie eine tatsächlicher politischer Umsturz unwahrscheinlich ist. Wie die notwendige Politisierung und Demokratisierung angesichts nationaler Unterschiede, unterschiedlicher politischer Kulturen in einem Zeitalter der Politikverdrossenheit und –skepsis aussehen könnte, dazu gibt auch Brunkhorst keine Antwort. Da die dialektische Analyse durchaus überzeugt und die einzige Alternative, ein Rückfall in nationalstaatliche Verhältnisse und Konkurrenzsituationen, nur die letzte Option bleiben sollte, bleibt nach der Lektüre der Wunsch, andere Autoren würden sich mit Brunkhorsts Thesen auseinandersetzen, sie inhaltlich prüfen und vor allem darauf aufbauende Lösungsmöglichkeiten entwickeln.