Der wahlkämpfende Parlamentspräsident
|Die Spitzenkandidaten der großen Parteien stehen fest. Sowohl Jean-Claude Juncker von der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP / CDU) als auch Martin Schulz von der Sozialistischen Partei Europas (SPE / SPD) erwarten, dass der Sieger bei der kommenden Wahl Präsident der Europäischen Kommission werden wird. Die Entscheidung, das Amt des Kommissionspräsidenten zu politisieren, könnte den Europawahlkampf beleben. Ein Vorgeschmack bietet bereits die erste Woche nach der Nominierung der beiden Kandidaten. Eine inhaltliche Auseinandersetzung hat zwar noch nicht Fahrt gewonnen. Doch die Konservativen haben bereits ein Ziel: Schulz Parlamentspräsidentschaft.
Martin Schulz ist seit 2012 Präsident des Europäischen Parlaments. Bereits zu dem Zeitpunkt hat er keinen Hehl aus seiner Ambition gemacht, einmal Präsident der Europäischen Kommission zu werden. Der seit 2009 gültige Vertrag von Lissabon sieht schließlich vor, dass das Ergebnis der Europawahl bei der Wahl des Kommissionspräsidenten zu berücksichtigen sei. Bereits bei seiner Wahl durch die Abgeordneten des Europäischen Parlaments war somit bereits abzusehen, dass sich Schulz in den kommenden Europawahlkampf stürzen würde.
Richtig ist jedoch, dass auf der nationalen Ebene der Parlamentspräsident zur Neutralität verpflichtet ist. Es wäre zum Beispiel beinahe unvorstellbar, würde der Bundestagspräsident Norbert Lammert sich um ein Exekutivamt bewerben, ohne vorher von seinem neutralen Posten zurückzutreten. Junckers Kritik hat daher eine durchaus verständliche Stoßrichtung: Ein neutrales Amt und ein parteipolitischer und gewollt polarisierter Wahlkampf vertragen sich in der Theorie nicht.
In der Praxis unterscheidet sich der Präsident des Europäischen Parlaments jedoch von seinen nationalen Kollegen.
Zunächst wird ein Parlamentspräsident auf nationaler Ebene in der Regel automatisch von der stärksten Fraktion gestellt. Gewählt wird er meist mit überdeutlichen Mehrheiten. Lammet erreichte bei seiner letzten Wahl zum Beispiel mehr als 90% der Stimmen. Schulz hingegen erhielt gerade einmal 55% der Stimmen bei seiner Wahl, ungefähr der Anteil des linken Lagers plus einige Konservative. Obwohl es im Europaparlament eine Absprache gibt, nach der die beiden großen Fraktionen (EVP / SPE) jeweils für 2,5 Jahre den Parlamentspräsidenten stellen, wird dieser offensichtlich nicht von einer breiten Mehrheit getragen.
Außerdem hat der Europaparlamentspräsident eine deutlich politischere Aufgabe als seine nationalen Kollegen. Lammert engagiert sich zum Beispiel für die Rechte von Abweichlern, gibt ihnen zum Beispiel in umstrittenen Abstimmungen Redezeit. Schulz hingegen muss wie seine Vorgänger die Entscheidungen der einzigen demokratisch gewählten Institution der Europäischen Union regelmäßig gegenüber der Kommission und dem Rat, den anderen beiden wichtigen Institutionen der Union, verteidigen. Denn anders als beim Deutschen Bundestag ist es keineswegs so, dass alle Gesetze der EU automatisch aus dem Europäischen Parlament kommen müssen. Die Präsidentschaft des Europaparlaments ist daher einer der ganz wenigen Posten, in denen man als europäischer Politiker überhaupt erst bekannt werden kann und sich Meriten erwerben kann. Schulz braucht dieses Amt, um sich gegenüber Juncker als Alternative zu präsentieren: Auf der einen Seite der Vertreter des europäischen Parlamentarismus, auf der anderen Seite der Vertreter der europäischen Staaten.
Zuletzt hat Schulz natürlich Recht, wenn er darauf hin weist, dass in den meisten Ländern Kandidaten nicht für einen Wahlkampf von ihren Ämtern zurücktreten. Dieses Verteidigungsargument offenbart jedoch die Schwäche seiner Argumentation. Denn erstens sehen es Wähler nicht gerne, wenn sich ein Kandidat noch an einem früheren Amt festhält – man erinnere sich an Norbert Röttgen. Andererseits ist der Fall, dass ein zur Neutralität verpflichteter Parlamentspräsident sich für ein Regierungsamt bewirbt, nun einmal sehr selten.
Die Konservativen wissen also, warum sie die Forderung nach einem Amtsverzicht immer wieder wiederholen. Er ist nicht nur in Teilen durchaus berechtigt, sondern wird bei den Wählern auch gut ankommen. Die Sozialisten müssen sich nun anstrengen, mit Inhalten zu zeigen, dass es in diesem Wahlkampf wichtigere Fragen als die Ausübung dieses Amtes bis Ende Mai gibt.